Sind Flüchtlinge eine Folge rücksichtsloser Ausbeutung?

18.10.2016, 11:21 Uhr
Sind Flüchtlinge eine Folge rücksichtsloser Ausbeutung? (Symbolbild)

© dpa/Patrick Pleul Sind Flüchtlinge eine Folge rücksichtsloser Ausbeutung? (Symbolbild)

Herr Schiffer-Nasserie, in drei kurzen Sätzen: Wie fällt Ihre Bilanz zur Flüchtlingskrise aus? 

Arian Schiffer-Nasserie: Es war weder berechnungsloser Humanismus, der im Oktober 2015 zu dieser erstaunlichen Wende in der deutschen Flüchtlingspolitik geführt hat. Noch war es – wie Pegida-Anhänger vielleicht meinen – ein nationaler Ausverkauf auf der Grundlage "humanistischer Gefühlsduselei". Sondern es ging und es geht um einen wichtigen Bestandteil moderner Welt-Elends-Verwaltung im deutschen Interesse – nicht im Interesse der Flüchtenden. 

Wie meinen Sie das? 

Schiffer-Nasserie: Die Flüchtlinge sind ein unerwünschtes Nebenprodukt der Zerstörung weiter Teile der Welt für die Interessen der führenden Staaten, insbesondere der G 7. Es ist kein Zufall, dass viele der Haupt-Herkunftsländer der Flüchtenden zugleich jene Länder sind, in denen westliche Staaten ihre Weltordnungskriege führen: Westbalkan, Afghanistan, Irak, Libyen. Und deutsche Unternehmen und die deutsche Politik profitieren von der herrschenden Weltordnung.

Für dieses Elend machen Sie in erster Linie Europa und die Bundesrepublik verantwortlich. Was ist mit der Entwicklungshilfe

Schiffer-Nasserie: Die erwähnte Hilfe unterstellt ja zunächst mal, dass diese Teile der Welt ziemlich ruiniert sind. Der Grund: Mit seinen konkurrenzlos überlegenen Waren und Unternehmen – ich spreche noch gar nicht von Waffenexporten – zerstört unter anderem Deutschland maßgeblich die Lebensgrundlagen in weiten Teilen der Welt. Übrigens auch innerhalb des EU-Binnenmarktes.

Das ruiniert auch Staaten, aus denen die "Wirtschaftsflüchtlinge" kommen. Folgen des wirtschaftlichen und staatlichen Zerfalls sind ethnisch ausgetragene Verteilungskämpfe, also Stammeskriege und religiöser Fundamentalismus.

Was macht Deutschland falsch? 

Schiffer-Nasserie: Zum Beispiel den Export der konkurrenzlos günstigen Schlachtabfälle der niedersächsischen Geflügelindustrie nach Zentralafrika. Dadurch verlieren die lokalen Bauern ihre Existenzgrundlage, weil sie mit der Produktivität deutscher Kapitale nicht mithalten können.  

Arian Schiffer-Nasserie ist Professor an der Evangelischen Hochschule Bochum und kritisiert die Flüchtlingspolitik der EU.

Arian Schiffer-Nasserie ist Professor an der Evangelischen Hochschule Bochum und kritisiert die Flüchtlingspolitik der EU.

All die Hilfe, die in Krisenregionen fließt, ändert die überhaupt etwas? 

Schiffer-Nasserie: Entwicklungshilfe in den ehemaligen Kolonien Europas diente nach 1945 der Inwertsetzung dieser Länder für den Weltmarkt, diente etwa dem Ausbau von Infrastruktur, um ihre Rohstoffe überhaupt abtransportieren zu können. Dahinter stand das Eigeninteresse der "freien Welt", dass viele unabhängige "Entwicklungsländer" jetzt darum konkurrieren, ihre Rohstoffe in einem Unterbietungs-Wettbewerb billig an die „Erste Welt“ zu verkaufen.

Heute, nach 1990, dient westliche Entwicklungshilfe eher der "Hilfe zur Selbsthilfe", dem Kampf gegen Aufstände und Seuchen. Damit sollen die Menschen daran gehindert werden, dass sie als Flüchtlinge in die Zentren des Kapitalismus kommen. 

Ist es denn falsch, Flüchtlinge aufzunehmen? 

Schiffer-Nasserie: Zwischenmenschlich ist es nie falsch, Menschen in Not zu helfen. Man darf aber nicht die Winkelzüge der deutschen Flüchtlingspolitik mit dieser Hilfe verwechseln. Bevor die Bundesregierung im vergangenen Sommer massenhaft Flüchtlinge aufgenommen hat, sind Zehntausende an der Abschottungspolitik der EU gestorben. Und die hat Deutschland in der EU maßgeblich zuvor durchgesetzt.

Inzwischen hat die EU ein Rücknahme-Abkommen mit der Türkei geschlossen und schließt bald eines mit Afghanistan. Ähnliche Deals strebt sie mit Libyen und Ägypten an. Ziel ist, dass diese Staaten ihre Bevölkerung und Flüchtende aus anderen Ländern daran hindern, in die EU zu kommen. Von diesen Ländern erwartet die deutsche Außenpolitik, was sie einst der DDR zum Vorwurf machte: die Menschen an ihrer Reisefreiheit zu hindern.

Das klingt sehr pessimistisch. Was kann man denn überhaupt tun?

Schiffer-Nasserie: Wenn wir festhalten am Erfolg einer Bundesrepublik Deutschland als führender kapitalistischer Wirtschaftsmacht, dann gehört die Zerstörung großer Teile dieser Welt eben dazu. Und damit auch die Flüchtenden.

Gibt es etwas, das man als Einzelner tun kann? 

Schiffer-Nasserie: Warum soll man eigentlich immer als Einzelner etwas tun? Wenn man etwas ändern will, muss man das zusammen tun. Vom Standpunkt der Bundesbürger aus wäre ein erster Ansatz, dass sie mehr an sich denken und für bessere Löhne und Arbeitsbedingungen hier bei uns kämpfen. Das führt nicht nur automatisch zu höheren Beiträgen in die Sozialversicherungen.

Es schadet auch der Konkurrenzfähigkeit der deutschen Wirtschaft — und wenn diese weniger konkurrenzfähig ist, zerstört sie auch die Lebensgrundlagen in Entwicklungsländern nicht mehr so sehr. Die Menschen sollten sich nicht gegeneinander ausspielen lassen für den Profit ihrer Unternehmen und Staaten. 

Am Donnerstag, den 20.10.16, lädt die Technische Hochschule in Nürnberg alle Interessierte zu dem Vortrag mit anschließender Diskussion von Herrn Prof. Dr. Schiffer-Nasserie mit dem Thema "Abweichende Überlegungen zu ´Flüchtlingskrise´und ´Willkommenskultur´- eine Zwischenbilanz" ein. Beginn der Veranstaltung ist um 18 Uhr, Raum BB 006, Bahnhofstr. 90.

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