Türkei: Kurdenermordung war "Staatspolitik"

17.8.2010, 11:45 Uhr
Türkei: Kurdenermordung war

© dpa

Als Nazim Babaoglu einen heißen Tipp bekam, zögerte er nicht lange. Am 12. März 1994 erhielt der Journalist der pro-kurdischen Zeitung "Özgür Gündem" im südostanatolischen Urfa einen Anruf von einem Kollegen. Im nahen Bezirk Siverek gebe es eine gute Geschichte für ihn, sagte er. Babaoglu fuhr los - und wurde nie wieder gesehen. Der Kollege, so stellte sich später heraus, wusste nichts von seinem angeblichen Anruf bei Babaoglu. Der Journalist war in eine tödliche Falle gelockt worden.

Babaoglu ist einer von mehreren tausend Menschen, die in den 1990er Jahren, auf dem Höhepunkt des Krieges zwischen der türkischen Armee und den
PKK-Kurdenrebellen, ermordet aufgefunden wurden oder spurlos verschwanden. Es geht um mindestens 3000 Mordfälle, manche Leichen wurden nie gefunden. Nach wie vor ist das Thema in der Türkei so tabu, dass ein Verleger in Istanbul noch im vergangenen Jahr wegen Beleidigung des Türkentums verurteilt wurde, weil er ein Buch über das Verschwinden von Nazim Babaoglu veröffentlichte.

Lange wagte sich kein Staatsanwalt an die ungeklärten Morde heran. Erst seit kurzem ändert sich das: Anklagevertreter ließen sterbliche Überreste mutmaßlicher Opfer gerichtsmedizinisch untersuchen. Im südostanatolischen Diyarbakir muss sich derzeit ein Armee-Offizier wegen der Ermordung von Kurden vor Gericht verantworten.

Schmutziger Krieg kommt ans Tageslicht

Der Beginn des Prozesses hat das sonst so verschwiegene Offizierskorps aufgeschreckt. Empört von der Aussicht, dass Soldaten ausbaden sollen, was Politiker und Vorgesetzte ihnen eingebrockt haben, meldete sich jetzt ein pensionierter Admiral namens Atilla Kiyat im Fernsehen zu Wort. Die Morde an den Kurden seien "Staatspolitik" gewesen, sagte er. Damit könnte er die Aufarbeitung der ungeklärten Morde entscheidend vorangebracht haben. Der schmutzige Krieg des türkischen Staates gegen die Kurden kommt ans Tageslicht.

Kein kleiner Offizier in einer kurdischen Provinzstadt habe von sich aus  entscheiden können, kurzerhand diesen oder jenen Journalisten oder Menschenrechtler aus dem Weg zu räumen, sagte Kiyat im Privatsender Habertürk. "Nein, dafür kam immer ein Befehl von oben. Nun sitzen diese Kameraden hinter Gittern, während diejenigen, die für diese Staatspolitik verantwortlich waren, ruhig in ihren Betten schlafen."

Tötungen staatlich sanktioniert

Kiyat appellierte an die führenden Politiker und Militärs der neunziger Jahre, klipp und klar zu sagen, dass die Morde staatlich sanktioniert waren. "Es ist leider so, dass die Führung dieses Landes damals außergerichtliche Tötungen als Mittel der Terrorbekämpfung betrachtete." Menschenrechtler werten die Aussage als offizielle Bestätigung des seit Jahren gehegten Verdachts, dass es Mitglieder der Sicherheitskräfte waren, die in den neunziger Jahren reihenweise angebliche Unterstützer der PKK-Kurdenrebellen verschwinden ließen.

"Seit fast 20 Jahren treibt uns die Frage nach den Verschwundenen und nach den ungeklärten Morden um", sagte der Menschenrechtler Cemal Babaoglu kürzlich auf einer Kundgebung in Urfa. Cemal ist der Bruder des vor 16 Jahren spurlos verschwundenen Journalisten Nazim Babaoglu. "Aber allein für unsere Fragen sind viele von uns schon ermordet worden." Deshalb schlugen Kiyats offene Worte ein wie eine Bombe. Ein Menschenrechtsverein hat bereits Strafanzeige erstatttet gegen die verantwortlichen Politiker jener Jahre, vorneweg die damalige Ministerpräsidentin Tansu Ciller. Kiyat selbst soll im Prozess gegen den Offizier in Diyarbakir als Zeuge vernommen werden.