Warum gibt es so viele Erdogan-Anhänger in Deutschland?

12.8.2016, 17:00 Uhr
Rote Fahnen vor dem türkischen Konsulat in Nürnberg: Demonstranten bezeugen ihre Unterstützung für Präsident Erdogan nach dem Putschversuch.

© Horst Linke Rote Fahnen vor dem türkischen Konsulat in Nürnberg: Demonstranten bezeugen ihre Unterstützung für Präsident Erdogan nach dem Putschversuch.

NZ: Herr Çiçek, wie sieht Ihre Einschätzung aus: Mit welchem der beiden Länder identifiziert sich die Mehrheit der Deutschtürken am stärksten?

Hüseyin I. Çiçek: Während der EM habe ich genug Türken gesehen, die aufgesprungen sind, als Deutschland gewonnen hat. Die waren genauso traurig, als die Türkei und als Deutschland ausgeschieden sind. In der Brust von vielen Türken schlägt das Herz sowohl für Deutschland als auch für die Türkei. Diese emotionalen Bindungen kann man meist schwer in eine Rangfolge bringen. Es gibt aber auch einen Teil türkischer Bürger, die sich ausschließlich mit der Türkei identifizieren. Eine Zahl zu ermitteln, ist schwierig. Meist ist es eher ein
situationselastisches Verständnis, wenn ich das mit einem österreichischen Begriff untermauern dürfte.

Das heißt, man schwankt immer wieder, je nach Situation oder Thema, ob man sich in diesem Moment eher als Türke oder als Deutscher fühlt?

Çiçek: Ja. Es gibt eine ganz starke Bindung an die türkischen Wurzeln – und auch an die deutschen Wurzeln, auch wenn die nicht biologischer, sonder kultureller Art sind. Einem Teil der türkischen Gemeinde das zu- oder abzusprechen, ist schwierig.

Warum gibt es so viele Erdogan-Anhänger in Deutschland?

Çiçek: Seine Partei AKP hat in der Türkei von 2002 bis 2012 eine unglaubliche Erfolgsgeschichte geschrieben. Politisch, kulturell und vor allem wirtschaftlich gab es gewaltige Fortschritte. Dann veränderte sich die Situation im Nahen Osten, es kam der Arabische Frühling, der Syrien-Krieg und andere Konflikte. Das hatte Einfluss auf die Wirtschaft und auf radikale Gruppierungen, die heute in der Türkei operieren. Entsprechend hat sich die Stimmung im Land und die Politik der AKP verändert. Das bekommen Deutsche mit türkischem Migrationshintergrund mit. Aufgrund ihrer emotionalen Bindungen hat das Auswirkungen auf ihre Einschätzung der Situation.

Wie macht sich das bemerkbar?

Çiçek: Manche reagieren auf inakzeptable Weise. Ich finde etwa den Vorwurf unglaublich, die deutsche Presse als gesteuert zu bezeichnen. Da gehen Emotionen hoch, die Situation wird nicht mehr objektiv gesehen. Die Krisenlage der Türkei hat in Europa viele Türken dazu bewogen, sich der AKP anzunähern. Immer wieder betont die türkische Regierung die Herausforderungen, ob das jetzt die PKK ist oder islamistische Gruppierungen. Wobei man anfügen muss, dass die Türkei selbst Gruppen wie den IS unterstützt hat. Türkische Journalisten haben das gut dokumentiert – und wurden dafür der Spionage beschuldigt. Auch dieses Spiel der Regierung mit dem Feuer hat dazu beigetragen, dass eine Atmosphäre der Angst entstanden ist. Und dass Leute, die die Lage kritisch sehen, sich nicht kritisch äußern.

Mit der Angst wächst die Sehnsucht nach einem starken Mann.

Çiçek: Die Befürwortung von Erdogan und die Unterstützung nach dem Putschversuch muss man auch im Kontext sehen: 2014 und 2015 gab es insgesamt acht Selbstmordanschläge in der Türkei, von radikalen kurdischen Gruppen und Dschihadisten. Auch dies erhöht den Wunsch nach Sicherheit. Und all dies trägt dazu bei, dass auch hier ein Teil der Bevölkerung aufsteht und „Türkei, Türkei“ schreit, was für Außenstehende schwer nachzuvollziehen ist.

Nach der Armenien-Resolution hat Erdogan türkischstämmige Bundestagsabgeordnete wüst attackiert. Und auch vom türkisch-islamischen Verband Ditib in Deutschland kam Kritik. Ist Ditib Erdogans Sprachrohr?

Çiçek: Das Problem bei der Integra-tionsthematik ist, dass diese Bereiche sehr emotional geladen sind. Auch wenn moderate Stimmen aus Ditib kommen, kann es sein, dass diese Stimmen untergehen. Es gibt da durchaus Personen, die sich gegen Integrationsmaßnahmen wenden, aber das gilt nicht für den ganzen Verband.

Über die Religionsbehörde Diyanet hat Erdogan jedenfalls einen Draht in die deutschen Moscheen: Die Imame sind quasi bezahlte Beamte der türkischen Behörde.

Çiçek: Sie werden aus der Türkei gestellt und unterliegen der türkischen Diyanet, ja. Der Imam vertritt die Interessen der Diyanet, so wie ein Priester die Interessen der katholischen Kirche vertritt. Aber auch da gibt es eben Priester mit liberalen und konservativen Ansichten. Und
gleichzeitig gibt es in Deutschland die Richtung von ganz vielen islamischen Zentren, Fakultäten und Einrichtungen, die einen „europäischen Islam“ entwickeln wollen.

Das steht aber noch in den Anfängen. Die meisten Imame hier wurden von Ditib aus der Türkei geholt.

Çiçek: Ja. Aber an den verschiedenen deutschen Universitäten werden immer mehr Imame ausgebildet. Und wenn ein Muslim in eine Moschee von Ditib zum Beten geht, heißt das noch lange nicht, dass er alle Ansichten des Imams zu Hundert Prozent unterstützt. Die Aussage, dass die türkischen Muslime hier unter massivem Einfluss der türkischen Regierung stehen, halte ich für falsch.

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