Diagnose des nationalen Irrsinns

17.5.2016, 18:00 Uhr
Diagnose des nationalen Irrsinns

© Hans-Joachim Winckler

Merkwürdig: Da hat sich die Kofferfabrik endlich eine schöne große Bühne gegönnt, auf der die Musiker sich nicht mehr gegenseitig den Gitarrenhals ins Auge rammen – und dann gibt es Theaterleute, die diese Bühne schon wieder für zu groß halten. Dabei beansprucht ein Café doch Platz? Aber Brigitte Döring zog die Intimität des kleinen Theaters der Konzertbühne vor. Immerhin ist damit der Theatersaal bis zum letzten Platz gefüllt.

Und es ist ja soo heimelig dort. Sämtliche Tische, Stühle und Kleiderständer sind mit Stanniolpapier umwickelt, selbst die Kellnerin läuft mit Stanniol im Haar und an der Schürze herum. Das wirkt so klar, geradezu clean, hier kann doch kein Schmutz gedeihen. Oder?

Ins Nachtcafé flanieren die üblichen Großstadtgestalten: Reisende, Hausierer und gehobene Damen, die beim Einkauf eine Kaffeepause einlegen; Herren und Damen mit der Lust am Abenteuer; frühreife Gören und ausgebuffte Nutten, Hungerleider, Schnorrer und Großkotze. Und Herrschaften, die weit über den Durst getrunken haben und sich um Kopf und Kragen lallen. Da hat sich im Vergleich zu heute nichts geändert — außer, dass im Nachtcafé von damals keiner in sein iPad glotzt.

All diese Gestalten deklamieren nun Texte von Kästner, Tucholsky und Mehring. Gedichte, Betrachtungen, Beobachtungen, Kurzgeschichten vom Vorabend des Dritten Reichs. Das heißt, sie deklamieren sie nicht. Sie geben sie von sich in Gestalt von Selbstgesprächen, in Dialogen, wenn es sein muss auch im Dialog mit einem imaginären Gegenüber. So erzählt Udo Martin von einem geselligen Abend mit einer dänischen Dogge, die die Gesellschaft derart diszipliniert, dass nur noch die Flucht aus dem Klofenster die Freiheit verspricht. Diese Geschichte von Erich Kästner erzählt Martin derart hübsch und anekdotisch, dass die Allegorie aufs Dritte Reich sich erst nach und nach einstellt.

Bleibt es beim Aufsagen von interessanten Texten? Nein, denn was den Abend im Nachtcafé so spannend macht, ist das vielfältige Drumherum. Wenn auch die Texte sehr pointiert formuliert sind und entsprechend vorgetragen werden, will der Zuschauer doch etwas zu sehen haben. Und das bekommt er: Da herrscht ein zwangloses Kommen und Gehen, da sorgen Blickkontakte und stille Flirts zwischen Herr und Dame im Hintergrund für Spannung, sorgt gar eine lesbische Verführung der atemberaubenden Rebecca Gonter für Dampf, dass der armen Bedienung (Samantha Lerch) Hören und Sehen vergeht; gelegentlich verirrt sich sogar eine abgerissene Gestalt (Martha Unterhofer) in die Reihen des Publikums und bettelt um einen Euro.

Das klingt zwar alles in allem recht unterhaltsam und beliebig, doch nach und nach wird die Atmosphäre drückender, die Stimmung lastender, werden die Texte desillusioniert und hoffnungslos. Kein warnender Finger mit – Impetus: „Ich hab’s euch doch gesagt“ — hebt sich, nur die lapidare Diagnose einer verrückt gewordenen Nation in der Sackgasse steht im Raum. Das Pathos einer letzten Hoffnung, Tucholskys „Blick in ferne Zukunft“, macht Peter Fidel am Cello mit seiner „La le lu“-Untermalung zunichte. Heile-Welt-Kitsch der fünfziger Jahre bedeckt die Greuel.

War das nun eine museale Aufführung im Gedenken an kritische Geister? Schön wär’s. Nein, in Zeiten von AfD, Pegida und der diffusen Angst vor Überfremdung beweist das Döringsche Nachtcafé seine Aktualität drängender denn je.

Verwandte Themen


Keine Kommentare