Bald Fachkräftemangel an Physiotherapeuten?

27.1.2015, 15:24 Uhr
Bald Fachkräftemangel an Physiotherapeuten?

© Fachhochschule des Mittelstandes

Aktuell gibt es laut dem Landesverband Bayern e.V. der "physio deutschland" in Bayern ca. 6.000 Physiotherapie-Praxen, doch Nachwuchssorgen und Existenzangst prägen den Berufsstand.

Überstunden um Überstunden

Marcus Grau arbeitet seit Oktober 2014 bei "saludis", einer Tochtergesellschaft der Sozialstiftung Bamberg am Klinikum am Bruderwald. Er kritisiert vor allem das Missverhältnis zwischen Therapeuten und Patienten: "In der Klinik gibt es oft zu wenige Therapeuten für zu viele Patienten. Somit werden einige Patienten, die eigentlich eine Physiotherapie vom Arzt verordnet bekommen, nicht behandelt. Oder die Therapeuten, die – wie ich auch einer bin – oft das schlechte Gewissen plagt bzw. die Berufsehre und -ethik noch im Vordergrund steht, machen Tag um Tag Überstunde um Überstunde."

Doch auch in selbstständigen Praxen schafft, wie er von Kollegen weiß, die Abhängigkeit der Therapeuten von den Ärzten Probleme: "Stellen sie ihren Patienten kein Rezept für Physiotherapie aus, kommen sie natürlich auch nicht zu uns. Das liegt auch daran, dass Ärzten nur ein gewisses Kontingent an solchen Rezepten zur Verfügung steht. Überschreiten sie dieses, müssen sie teilweise horrende Mahngebühren zahlen, die teilweise auch in fünfstelligen Bereichen liegen können. Da ist es klar, dass sie es sich zweimal überlegen, welchem Patienten sie nun ein Rezept ausstellen und welchem nicht. Dadurch gehen uns aber leider Patienten durch die Lappen, die mit einem Rezept á 6 Behandlungen sehr gute Fortschritte erzielen würden und vielleicht nach dem zweiten Rezept beschwerdefrei wären."

Folgen für den Patienten

Das Gesundheitssystem habe sich in den letzten zehn Jahren drastisch verändert, so Marcus Grau, wobei die Tendenz dahin schon weitaus länger bestehe. Ein Beispiel: Damals beinhaltete ein Physiotherapie-Rezept zehn Behandlungen, heute nur noch sechs.

Doch das bleibt nicht die einzige Belastung für den Patienten: Der Eigenanteil pro Behandlungsrezept, der von den Krankenkassen nicht übernommen wird, wächst rapide

"Ich könnte mir vorstellen, dass in den nächsten Jahren dieser Eigenanteil höher wird und eventuell wird auch an der Behandlungszahl pro Rezept nochmal was geändert. Aber das sind nur Mutmaßungen."

Das bestätigt auch Silke Becker-Hagen, Pressesprecherin des Deutschen Verbands für Physiotherapie, LV Bayern e. V.: "Die Bedingungen für die Physiotherapeuten sind schwierig, denn die erbrachten Leistungen werden von den Gesetzlichen Krankenkassen nicht ausreichend vergütet. Entsprechend schlecht ist die Bezahlung für Physiotherapeuten: Das monatliche Bruttogehalt für Berufseinsteiger liegt durchschnittlich bei ca. 1.800 Euro."

"Der Fachkräftemangel ist schon jetzt spürbar"

Die Folgen für den Berufsstand seien vorhersehbar, aber absolut besorgniserregend: Der Nachwuchs bleibt aus oder sucht sich nach abgeschlossener Berufsausbildung andere Verdienstmöglichkeiten im Gesundheitswesen. Ein kleiner Teil komme auch in reinen Privatpraxen unter, da diese die Preise nach leistungsgerechten, betriebswirtschaftlichen Kriterien kalkulieren können. "Wenn diese Entwicklung nicht gestoppt wird, können gesetzlich versicherte Patienten zukünftig nicht mehr ausreichend versorgt werden. Der Fachkräftemangel ist schon jetzt, besonders in den neuen Bundesländern, spürbar", so Silke Becker-Hagen.

Diese Entwicklungen scheinen absurd, wenn man nur an unsere immer ältere werdende Gesellschaft, den Druck länger fit zu bleiben und den damit verbundenen steigenden Bedarf an medizinischer und physiotherapeutischer Behandlung denkt. Letztere kann die Kosten im Gesundheitswesen langfristig senken, da durch sie beispielsweise Operationen vermieden, Krankheitstage reduziert sowie Pflegebedürftigkeit verzögert bzw. verhindert werden kann.

Bald Fachkräftemangel an Physiotherapeuten?

© Marcus Grau

Auch die Fachhochschule des Mittelstandes hat die Missstände in diesem System erkannt und versucht mit einem neuen Studienangebot der Physiotherapie neue Impulse in der Fortentwicklung zu setzen:

An der Fachholschule des Mittelstands (FHM) kann man nun auch am neuen Standort Bamberg ein wissenschaftliches Studium zum "Bachelor of Science Physiotherpaie" absolvieren. Diese Art der Ausbildung ist in Deutschland noch eine Seltenheit, der erste Absolventenjahrgang brachte zehn junge Akademiker dieses Feldes hervor. "Wir leisten hier Pionierarbeit, da die Zukunft der Physiotherapeuten in vielerlei Hinsicht reformiert werden sollte", erklärt Prof. Dr. Karanikas, wissenschaftlicher Studiengangleiter in Bamberg.

Professionalisierung der Physiotherapie

Das Studium vereint bewusst praktische und wissenschaftliche Aspekte der Physiotherapie. Die Studenten sollen von Beginn des Studiums an lernen, verschiedene Therapiemethoden oder neue medizinische Erkenntnisse kritisch zu hinterfragen und sinnvoll in ihre Arbeit zu integrieren – "im Unterschied zur klassischen Ausbildung, in der den jungen Menschen oft fertiges Wissen nach einem gewissen Schema präsentiert wird. Unsere Absolventen sollen eigenständig entscheiden können, ob eine Studie sauber durchgeführt wurde oder welche aktuellen Forschungsarbeiten und Therapiemethoden es zu einem bestimmten Thema in der Physiotherapie  gibt." Besonders wichtig sind auch wirtschaftliche Aspekte des Berufsfeldes: Wie strukturiere ich eine Praxis? Welche Gesundheitstrends gibt es derzeit? Welche Fördermöglichkeiten kann ich ausschöpfen? Die Recherche hierzu und vor allem auch die Dokumentation und Darstellung der eigenen Arbeit sind Ziele des Lernprozesses.

Als überarbeitungswürdig im Physiotherapeuten-Alltag betrachtet er auch den - in der Öffentlichkeit wahrscheinlich weniger bekannten Druck der Weiterbildung nach der klassischen Ausbildung zum Physiotherapeuten. "Verbände und Krankenkassen setzen die Art der Fortbildungen fest. Sie sind oft Voraussetzung dafür, dass jene Leistungen gesetzlich abrechenbar sind", so Prof. Dr. Karanikas. Die Kriterien hierfür sollten entweder reformiert oder in andere Zuständigkeiten übergehen werden. Inhalte z. B, die bereits im Studium/Ausbildung berücksichtigt  und geprüft sind, sollten nicht wiederholt nachgewiesen werden.

Druck an kostenintensiven Fortbildungen

Das kostet natürlich auch: "Gerade die notwendigen Fortbildungen, die man braucht, um Fuß zu fassen, um gute Chancen zu haben, eingestellt zu werden, sind nicht gerade günstig: z.B.: Manuelle Lymphdrainage, Manuelle Therapie, Bobath, etc.", erzählt Marcus Grau. Er hat noch während seiner Ausbildung am Deutschen-Erwachsenenbildungswerk eine "Kinesio-Taping"-Fortbildung absolviert. Zurzeit erledigt er eine der größeren und wichtigsten Zusatzqualifizierungen, die "Manuelle Therapie" – zwar freiwillig, allerdings bei Bewerbungen immer öfter verlangt.

Einigen jungen Physiotherapeuten fehlen außerdem die wirtschaftlichen Kompetenzen, um sich erfolgreich selbstständig zu machen oder sich zu etablieren. In Kombination mit der immer stärker werdenden Domäne der Zuständigkeiten von Krankenkassen und Ärzten also eine Vielzahl negativer Faktoren.

"Wir erfahren von unseren ersten Absolventen, dass sie in ganz neuen Positionen und Arbeitsgebieten tätig und wirtschaftlich besser aufgestellt sind. Das gibt unserem Konzept recht", so Prof. Dr. Karanikas. "Dennoch wird in einigen Jahren ein 2-Klassen-Therapeuten-System existieren. Das schafft Konflikte."

Kampagne fordert angemessene Vergütung

Wie wird es in der Praxis weitergehen? "Ich glaube, dass sich in den nächsten Jahren in dem Berufsfeld 'Physiotherapie' einiges ändern wird. Das nächste große 'Thema' ist der 'first contact' – d.h., dass der Patient nicht zum Arzt geht und dieser entscheidet ob therapiert wird oder nicht, sondern der Patient kommt mit seinen Beschwerden zum Physiotherapeuten und dieser entscheidet dann das weitere Vorgehen. In vielen europäischen Ländern ist dies schon seit Jahren normal und das mit sehr guten Ergebnissen", weiß Marcus Grau.

Sollten sich die Existenzbedingungen der Physiotherapeuten weiterhin verschlechtern und damit mehr Praxen schließen müssen, drohen neue Probleme für die Patienten und letztendlich die Gesellschaft. Deshalb hat der Berufsverband der Physiotherapeuten die Kampagne "38,7% mehr wert" ins Leben gerufen, die eine angemessene Vergütung physiotherapeutischer Leistungen fordert. Diese Zahl entspricht der geforderten Mehrvergütung und entspringt einer ausführlichen, betriebswirtschaftlichen Analyse ambulant tätiger Physiotherapiepraxen.

Unter www.physiotherapie-ist-mehr-wert.de können Befürworter dieser Initiative noch bis zum 02.02.2015 abstimmen.

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