Ein Heim für Hirsch und Eule in der Auffangstation

20.12.2014, 16:00 Uhr
Ein Heim für Hirsch und Eule in der Auffangstation

© Joswig

Wolfgang, der riesige irische Wolfshund, trinkt einträchtig neben einem Truthahn am Teich. In der Föhre über ihren Köpfen wuseln Hühner. Und als wäre das noch nicht Idylle genug, steuert ein schwarzer Schwan zielstrebig auf das Ufer zu, um direkt neben ihnen an Land zu gehen. Mitten auf dem Weg beginnt er, sein Federkleid zu fetten. Dabei scheinen ihn weder die Strauße noch der Esel am Zaun gegenüber zu stören. Auch die zwei Frettchen, die neugierig die Szenerie beobachten, lassen ihn kalt. Und sitzt da nicht sogar ein Weißkopfseeadler auf dem Arm eines grauhaarigen Mannes? Ist das hier vielleicht die Arche Noah?

Ein Heim für Hirsch und Eule in der Auffangstation

© Joswig

Aber den frommen Propheten stellt man sich eher mit langem Wallehaar vor. Auch die Multifunktionskleidung, die der Hüne Hans Weiß zum Schutz vor Kälte trägt, gab es damals noch nicht. So manch andere Ähnlichkeit dagegen schon. Denn auf dem einen Hektar großen Gelände von Kümmersbuch bei Hahnbach leben rund 200 Tiere friedlich miteinander. Stachelschweine, Füchse, Lamas, Kolkraben und Geier. Ein privater Tierpark, irgendwo im oberpfälzischen Outback? Nein, sondern die staatlich anerkannte Wildtierauffangstation von Hans Weiß. Die betreibt der 48-Jährige seit 2006 offiziell. Die vielen Ställe, Gehege und Volieren sind Eigenbau. Kein Wunder, Weiß ist Zimmerer- und Dachdeckermeister mit einem eigenen Betrieb, der direkt an das Areal angrenzt.

„Die Leute bringen mir alles, wofür das Tierheim nicht zuständig ist: verletzte oder verwaiste Wildtiere. Und von den Besitzern falsch gehaltene Haustiere oder Exoten, die der Zoll beschlagnahmt hat“, erzählt er. Angefahrene Vierbeiner. Ab und zu einen Schwan, der in einer Stadt in der Fußgängerzone notlanden musste. „Wir kümmern uns dann, reparieren gebrochene Flügel, pflegen gesund, was geht, lassen die Wildtiere aber wieder frei. Ihre Auswilderung hat absolute Priorität!“, stellt er klar. Sein Hof ist schließlich nicht Disneyland, auch wenn seine Gäste nicht die geringste Scheu zeigen, sobald er sich den Gehegen nähert. Die Hand, die einen füttert, beißt man eben nicht.

Doch bei gut einem Drittel der Schützlinge, die ihm oft von Feuerwehr, Polizei und Förstern gebracht werden, ist Auswilderung nicht möglich. Etwa bei den Schneeeulen, für die der Besitzer keine Papiere hatte, und die schließlich vom Straubinger Zoo bei ihm landeten. Die Lamas und Sikahirsche stammen aus einem aufgelösten Vogelpark. Die Stachelschweine hatte ein Wanderzirkus im Wald ausgesetzt. Es war kein Geld mehr für Futter in der Kasse. Bärbel, die zahme Füchsin, kann dagegen aus einem besonderen Grund nicht in Freiheit entlassen werden, schmunzelt Weiß: Seine Rehpinscherhündin Emma hatte die Fähe seinerzeit „adoptiert“ und großgezogen. Auch mit Hofhund Wolfgang versteht sie sich bestens. „Die würde draußen auf jeden Jagdhund zulaufen und spielen wollen, das wäre ihr sicherer Tod.“

Das größte Problem: der Mensch

Fragt man Hans Weiß, was das größte Problem seiner Hausgäste ist, dann antwortet er: der Mensch und seine Hinterlassenschaften. Wild-Unfälle mit Autos oder landwirtschaftlichen Fahrzeugen bescheren ihm ständig neue Sorgenkinder. Vögel fliegen gegen Fensterscheiben, verheddern sich bei der Suche nach Nistmaterial in Müllresten. Auch in Schnäbeln und Flügeln verhakte Angelhaken oder Leinen, die Füße abschnüren, bis sie absterben, sind gefährlich. Von Wanderern, Joggern und Reitern geht kaum eine Bedrohung aus. So lange sie auf den Wegen bleiben. Anders sieht es bei Outdoorsportlern aus, die querfeldein unterwegs sind: „Rehe, die im Winter plötzlich aufgeschreckt werden, verhungern oft. Ihr Stoffwechsel braucht bis zu acht Tage, um wieder in den Ruhemodus zu kommen.

Doch auch bei Hans Weiß haben sich schon Tragödien abgespielt. Vorbeikommen und Anschauen ist Besuchern der Station jederzeit erlaubt. Tiere anfassen und Füttern dagegen nicht. Dennoch hatten sich vermeintliche Tierschützer schon mehrfach aufs Gelände geschlichen und Bewohner „befreit“. Hans Weiß stößt die Erinnerung daran noch heute auf: „Die haben das Frettchen ausgelassen. Das ist zu unserer seltenen Sumpfohreule rein und fraß sie auf. Danach grub es sich zum Fuchs durch und wurde selber gefressen!“, sagt er bitter und wirft dem Weißkopfseeadler auf seinem Arm einen letzten Streifen Fleisch zu.

Fressen und gefressen werden – ein zentrales Thema auf dem Hof. Gut fünf Tonnen Fleisch verfüttert Weiß jedes Jahr: Bisamratten, Tauben, Hühner und Hasen. Auch Rehe, die ihm von Jägern gebracht werden. Dazu Heu, Gras, frisches Obst und Gemüse. Vieles davon wird ihm von Bauern überlassen, von denen nicht wenige der Meinung sind, dass er „ein ganz schöner Spinner“ ist: Viecher retten und durchfüttern, die nur Geld kosten! Wie kommt so einer überhaupt vom Dach in den Stall? „Ich bin halt hier auf einem Bauernhof aufgewachsen.“ Schon beim Vater stieß er mit einer Mäuse- und Farbrattenzucht auf wenig Gegenliebe. Wo doch die Katze alle Pfoten voll zu tun hatte, freilebende Nager in Schach zu halten!

Passionsfrüchte für die Papageien

Weiß kann sich vorstellen, dass manche Leute nicht verstehen können, warum er seine Papageien mit Passionsfrüchten aus Neuguinea füttert, während an vielen Orten der Welt Menschen verhungern. Zweimal in der Woche fährt er nach Amberg, um von der Tafel Lebensmittel abzuholen. Unter anderem auch Delikatessen wie sündteure Trüffel, mit denen dort niemand etwas anfangen konnte. Folgen unserer Überflussgesellschaft! Also fütterte Weiß die Stachelschweine mit schwarzen und weißen Trüffeln. Ein anderes Mal brachte er massenhaft geräucherten Grönlandlachs mit. So viel, dass die Waschbären, die sonst gern Fisch fressen, „die Schnauze voll hatten und den Lachs nicht mehr anschauten“, erinnert er sich.

Trotzdem ist er froh, dass er von so vielen Seiten Unterstützung erfährt: Von den Behörden, die wissen, dass Hans Weiß ein Vorzeige-Tierhalter ist. Von den Tierärzten der Region, die seine Schutzbefohlenen oft umsonst behandeln und ihm nur Medikamente berechnen. Und natürlich von seiner Frau Stefanie. Die 46-Jährige hält ihm den Rücken frei, wenn er nach der Arbeit im Betrieb wieder stundenlang in den Ställen verschwindet. Füttern. Ausmisten. Hier ein Eichhörnchen mit Milch aufpäppeln. Da einer Türkentaube, die der Nachbar soeben vorbeigebracht hat, den gebrochenen Flügel schienen. Und im Freigehege bei den Straußen einen lockeren Holzpfahl wieder fest machen. Urlaub? Nicht möglich bei so einer Lebensaufgabe. Das erste und einzige Mal in den Ferien war er mit 18. „Auf Gran Canaria, das war’s dann!“. Wirtschaftlichkeit? Eine Frage, die er sich gar nicht erst stellt. Da könnte er gleich zusperren.

Dem Esel Goliath sind solche Überlegungen fremd. Mit markerschütternden Schreien ruft er nach seinem Besitzer: Zeit für das Heu! Hans Weiß verschwindet in der Abenddämmerung Richtung Weide. Und Wolfshund Wolfgang trottet noch mal auf einen letzten Schluck Wasser zurück an den Teich. Für die Waschbären gibt es sogar Lachs und Trüffel.

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