Beim Poetenfest: Norbert Gstrein

23.8.2010, 00:00 Uhr
Beim Poetenfest: Norbert Gstrein

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Sie ist zickig, halbgebildet, skrupellos. Doch schafft sie es, einen alternden Mann um den Finger zu wickeln, der sie heiratet und zur Erbin seines angesehenen Verlages macht. In seinem letzte Woche erschienenen Roman knöpft sich der aus Österreich stammende und in Hamburg lebende Schriftsteller Norbert Gstrein eine Verlegerwitwe vor. Sie heißt Dagmar Glück, doch alle Welt weiß bereits seit Wochen, dass realiter mit ihr Ulla Berkéwicz-Unseld gemeint ist, die Alleinherrscherin über den Suhrkamp-Verlag. Wie würde die streitbare Witwe von Siegfried Unseld reagieren, der am 26. September 2002 im Alter von 78 Jahren gestorben war? Vorweg bemerkt: Sie hat bis jetzt nichts unternommen. Warum auch, würde sie doch mit einer Klage dem Buch zu noch größerer Popularität verhelfen.

Noch bleibt uns Gstrein die Antwort schuldig, warum er diese Abrechnung schreiben musste. Aber vielleicht spricht er ja am Samstag in auf dem Poetenfest darüber. Er gehörte einmal zu den Stamm-Autoren des Suhrkamp-Verlages, den er jedoch verlassen hat, um jetzt seine Bücher bei Hanser verlegen zu lassen. Die Trennung muss ein Trauma ausgelöst haben. Oder war die Wunde zuvor schon geschlagen worden?

Gstrein lässt seinen Roman in Wien spielen, das gibt ihm eine besondere Farbe. Siegfried Unseld hätte sich auch an Kurt Waldheim gerieben. Die Handlung: Ein Lektor, der ausersehen war, die Biografie seines Verlegers zu schreiben, wird kaltgestellt. Stattdessen soll er nach dessen Tod das Buch der Witwe über das Sterben ihres Mannes lektorieren. Tatsächlich hat Ulla Berkéwicz sechs Jahre nach Unselds Tod ein Buch über dessen Sterben verfasst, von dem es in der Neuen Zürcher heißt, darin werde Totenkult betrieben und der Akt des Hinscheidens „heilsgeschichtlich überhöht“. Gstrein porträtiert „seine“ Verlegerwitwe als exaltierte Tussi, die dilettantisch agiert, zeitgeistig und doch kleinbürgerlich denkt, die menschenverachtend mit ihren Untergebenen umgeht und zu allem Überfluss noch ihren langsam trottelig werdenden Mann in ihre einfach gestrickte pseudoreligiöse Welt hineinzieht.

Mitunter zeigt Gstrein sogar Mitleid. Zwischen den Zeilen wird eine unsichere, trotz Skrupellosigkeit auch manchmal skrupulöse Frau gezeigt, die Anerkennung sucht. Die andererseits aber schlichtweg auf die Nerven geht, wenn sie von ihrem Mann als „Sterber“, als „Sterbling“, als „Jenseitsrabe“ spricht. Schön zu lesen sind Gstreins Ausflüge ins Wiener Bussi-Bussi-Kulturleben, das nur ein Österreicher so beschreiben kann. Bevor es zum bitteren Ende kommt, erfahren die Leser viel über das Verlagswesen und das Tagwerk der Lektoren, die, wenn sie gut sind, die Schwächen der Autorinnen und Autoren ausbügeln und mit auf den Punkt gebrachten Klappentexten die Leser ins Buch ziehen müssen. Lektoren haben vor allem Distanz zu wahren: zum Autor, zum Werk, zum Sujet. Wo dies nicht gelingt, ist Scheitern programmiert. Vielleicht ist das sogar die geheime Botschaft des Buches.

Norbert Gstrein. Die ganze Wahrheit. Hanser, 303 S. 19,90 Euro

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