Bildungsexpertin fordert Abschaffung der Schulnoten

15.9.2014, 08:25 Uhr
Wie sinnvoll sind Schulnoten?

© dpa Wie sinnvoll sind Schulnoten?

Frau Professor Gläser-Zikuda, am Dienstag beginnt die Schule – was können Lehrer tun, damit den Kindern nicht sofort die Lust vergeht?

Michaela Gläser-Zikuda: Der Schulanfang ist etwas Besonderes, sowohl für die ABC-Schützen als auch für ältere Schüler. Oft zählen die ersten Tage; sie können positive, aber auch negative Folgen für die weiteren Wochen und Monate haben. Daher ist es wichtig, dass bei den Anfängern das Interesse auf das Neue, auf die Schule und auch das Leistenwollen aufgegriffen, geweckt und vor allem möglichst lange beibehalten wird.

Wie kann man das im Schulalltag durchhalten?

Gläser-Zikuda: Hierfür ist unerlässlich, dass die Lehrer jedes Kind möglichst individuell im Blick haben. Die Lernfreude sinkt sehr rasch, noch im Verlauf des ersten Schuljahres, wenn beispielsweise traditionell Leistung bewertet, also der Schüler hauptsächlich am reinen Klassendurchschnitt gemessen wird. Das lässt sich verhindern, indem man mehr auf individualisierende, also auf ein bestimmtes Kind zugeschnittene Formen des Lernens, Leistens und Förderns setzt.

In diese Richtung zielt der Verzicht auf Zwischenzeugnisse; stattdessen soll es Gespräche geben. Ist das sinnvoll?

Gläser-Zikuda: Die Abschaffung sehe ich in der Grundschule, wie übrigens möglicherweise auch irgendwann in Sekundarschulen sehr positiv. Lehrkräfte werden so stärker in die Verantwortung genommen, sich intensiv mit der Entwicklung und den Lernprozessen des einzelnen Schülers auseinanderzusetzen. Bei Nachfragen muss die Lehrperson in der Lage sein, detailliert Auskunft zu geben.

Bildungsexpertin fordert Abschaffung der Schulnoten

© Eduard Weigert

Sind solche Beurteilungen für die Eltern verständlicher als reine Noten?

Gläser-Zikuda: Auf jeden Fall. Wenn Lehrer den Eltern konkrete Situationen schildern oder die Beurteilung von Lernergebnissen erläutern, können die Eltern die Einschätzungen besser nachvollziehen.

Bei den Gesprächen sollen Klassenlehrer, Eltern und Schüler an einem Tisch sitzen. Reicht das für ein umfassendes Bild aus?

Gläser-Zikuda: Empfehlenswert wäre es, wenn Eltern nicht nur mit dem Klassenlehrer ein Gespräch führen, sondern auch mit weiteren Lehrern. Auf diese Weise könnten so genannte Fehlertendenzen in der Wahrnehmung eines Kindes durch einen Lehrer minimiert werden. Denn sicher können in Beurteilungen auch Gefühle wie Antipathie und Sympathie eine Rolle spielen. Diese Effekte sind seit mehr als 30 Jahren bekannt. Die traditionelle Leistungsbeurteilung und Notengebung ist daher sehr problematisch.

Bringt es auch den Schülern etwas, wenn sie kein Zwischenzeugnis bekommen?

Gläser-Zikuda: Auf jeden Fall. In Gesprächen erfahren sie, dass sich Zielsetzung, Planung, eigenständiges Lernen, Üben und Anstrengungen günstig auf ihren Lernprozess auswirken. Denn sie lernen, eben diesen Lernprozess zu beobachten und zu beurteilen. So entwickeln sie ein realistisches Bild ihrer vielfältigen Kompetenzen, und die Lernfreude, mit der alle Kinder in die Schule kommen, wird aufrechterhalten. Im Idealfall kann sie gesteigert werden – und sinkt eben nicht bereits nach einem halben Jahr dramatisch, wie viele Studien belegen.

In einer Stadt wie Erlangen mit überdurchschnittlich hoher Gymnasialdichte zählen aber vor allem schulischer Erfolg und Leistungswille.

Gläser-Zikuda: Der Leistungswille ist durchaus sehr wichtig. In der Schulpädagogik sprechen wir vom Leistenwollen, also der Bereitschaft eines Kindes, Leistung zu zeigen, weil es sich selbst etwas beweisen möchte. Hier geht es erst einmal gar nicht darum, dass sich der Schüler mit anderen vergleichen will. Das Austesten der eigenen Fähigkeiten ist für mich zudem nicht so sehr eine Frage des Elternhauses. Entscheidend ist, inwieweit Lehrer es schaffen, den Unterricht so zu gestalten, dass er möglichst allen Schülern entspricht.

Dennoch entscheidet die Herkunft stark über den Werdegang eines Kindes.

Gläser-Zikuda: Das ist richtig; das wissen wir aus Erhebungen hinlänglich. Hier müssen wir nachjustieren. Dennoch: Mit innovativen Konzepten lassen sich auch Kinder aus nicht so gebildeten Familien fürs Lernen begeistern.

Der Druck gerade auf jüngere Schüler nimmt trotz aller Reformen zu.

Gläser-Zikuda: Der Druck, zu guten Leistungen zu gelangen, nimmt zu. Das ist richtig. Aber was sind gute Leistungen? Wenn man sich international verschiedene Bildungssysteme anschaut, haben sich viele schon lange verabschiedet von der Notengebung von Anfang an. Es werden alternative Formate entwickelt, etwa Präsentationsformen, Lernprotokolle oder Portfolio-Arbeiten, in denen die Schüler in persönlichen Mappen bestimmte Arbeitsprodukte sammeln und dokumentieren. Mit solchen Methoden lassen sich die Fähigkeiten der Kinder umfassender abbilden.

Oft machen Schüler mit schlechten Noten Karriere und jene mit guten Noten hingegen nicht.

Gläser-Zikuda: Der Vorhersagewert für beruflichen Erfolg ist bei klassischen Schulnoten tatsächlich relativ gering – im Vergleich zu anderen Maßen wie kognitive Voraussetzungen und allgemeine Kompetenzen.

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