Der Welterklärer und sein außergewöhnliches Hobby

3.10.2010, 15:26 Uhr
Der Welterklärer und sein außergewöhnliches Hobby

© Böhner

800 Schulfibeln in 290 Sprachen nennt der Erlanger Wolfgang Fickert sein Eigen. Seit über 20 Jahren wächst seine Sammlung stetig, dabei ist die Suche mühsam. Auf Flohmärkten, in Antiquariaten, im Internet oder auf Reisen fahndet der 69-Jährige nach den seltenen Schätzen. „Mir ist nicht wichtig ob alt oder neu. Ich möchte vor allem internationale Stücke.“ Mit einer Fibel aus Tunesien legte Fickerts Vater vor etwa 50 Jahren den Grundstein für die ungewöhnliche Sammlung. Eigentlich wollte er so Arabisch lernen, kam allerdings mit der Fibel dabei nicht weit. „Eine Fibel setzt voraus, dass man eine Sprache bereits kann. Zum Lernen von Fremdsprachen ist sie nicht geeignet“, erklärt Wolfgang Fickert. Was ihn an Fibeln so fasziniert? „Sie sind das Gegenteil zu Briefmarken. Diese werden extra für Sammler hergestellt. Fibeln dagegen sind nur Gebrauchsgegenstände. Sie werden irgendwann weggeschmissen, dabei ist ihr gesamtkultureller Inhalt wesentlich größer.“
Die Sammelwut liegt dem Physiker offensichtlich im Blut. Neben den hunderten Fibeln, reihen sich 3000 deutschsprachige Bücher rund um Finnland - dem Heimatland seiner Frau - auf den heimischen Regalen.

Was aber genau ist eigentlich eine Fibel? Im Duden als kindersprachliches Synonym für Bibel geführt, bezeichnet man im heutigen Sprachgebrauch damit Anfänger-Lesebücher. Diese sind für die meisten Kinder von besonderer Bedeutung. Die Fibel eröffnet ihnen die Welt des Lesens und Schreibens und begleitet sie durch das erste, aufregende Jahr ihrer Schulzeit. In einer Kombination aus Wort und Bild, befriedigt sie den kindlichen Wissenshunger und prägt die Lebenswelt der Kleinen nachhaltig. Noch heute sind es auch in Deutschland die Lehrer, welche individuell über das Schreiblern-Buch entscheiden. In diesem Jahr konnten sie allein in Bayern aus insgesamt 20 zum Unterricht zugelassenen Fibeln wählen. Bewegen diese sich deutschlandweit natürlich innerhalb des festgelegten Lehrplans, so sind die internationalen Unterschiede groß. Weltbilder aus Diktatur, Demokratie oder zwischen christlichen Werten und Konfessionslosigkeit, lassen sich in Fibeln nachempfinden. Dadurch wird das eigentliche Gebrauchsgut zum Kulturgut, zum Spiegel von Politik, Religion und Gesellschaft. Hergestellt für Kinderaugen, erklären Fibeln die Welt.

Seltener Schatz aus Nordkorea

Unter dieser kulturspezifischen Betrachtung ist Fickerts Privatsammlung besonders beeindruckend. Eine nordkoreanische Fibel — des Sammlers seltenster Schatz — zeigt die Prachtbauten der Diktatur und eine sowjetische Ausgabe ein Bild von Staatsvater Lenin. Der gesellschaftliche und familiäre Wandel äußert sich ebenso sinnbildlich: Saß der Vater in älteren deutschen ABC-Büchern noch patriarchalisch beim Zeitunglesen, so steht der moderne Mann jetzt in der Küche und hilft mit.


Ganz besonders sind auch die Fibeln für Migranten und Minderheiten. „Viele Kinder lernen in der Schule eine Sprache, die sie zuhause eigentlich gar nicht sprechen“, so der 69-jährige Sammler. Im besten Fall lernen diese nach der Schrift der National- auch die ihrer Muttersprache im Heim- oder Sonderunterricht. Fibeln für türkische Kinder in Deutschland — die bereits auch hierzulande gedruckt werden — lehren somit Türkisch und bilden mit Weihnachtsbaum und Co. gleichzeitig die deutsche Lebenswirklichkeit ab.

Weiterhin umfasst die Sammlung Exponate in Schwyzerdütsch, Rätoromanisch oder dem Pennsylvania Dutsch der Amish. Auch hierzu hat Fickert interessantes Wissen parat. Teilweise lehren die Amish parallel zu ihrer Sprache und dem Englischen, heute auch noch mit Reproduktionen von deutschsprachigen Fibeln aus dem 19. Jahrhundert, frei von jeglichen Errungenschaften der Moderne, wie Autos und Computern. Fickerts ältestes Stück ist eine schwedischsprachige Fibel aus Finnland von 1830. Von ähnlichem Seltenheitswert ist ein digitales Exemplar aus Pakistan oder eins, welches von Missionaren in der Sprache eines australischen Ureinwohnerstammes erstellt wurde. Sie sollte diesen das selbstständige Lesen der ebenfalls übersetzten heiligen Schrift ermöglichen.

Eben solche Raritäten aus aller Welt erreichen den Physiker meist nur auf Umwegen, da es kaum weitere Fibelliebhaber gibt. In Deutschland weiß Fickert nur von vier anderen Sammlern. Umso glücklicher ist er über seinen sehr aktiven Tauschpartner aus Lettland. Unzählige E-Mails an Verlage und Antiquariate führen nämlich nur selten zum Erfolg. Außerdem darf es für ihn auch nicht zu teuer werden. „Meine Schmerzgrenze liegt bei 30 Euro pro Stück.“ Da kann es schon einmal passieren, dass er für das internationale Porto ein Zehnfaches mehr zahlt, als für den Inhalt selbst. In anderen Fällen entdeckt er zwischen Flohmarktgrusch und Antiquariatsstaub einen für ihn wertvollen Schatz für kaum mehr als einen Euro. Seine eigene Fibel aus Kindheitstagen hat der Sammler vor wenigen Jahren dank eines ehemaligen Klassenkollegen wieder gefunden und so vor dem Wegwerfen bewahrt — dem sonstigen Schicksal veralteter Fibeln.

Ein vollständiges Fibelarchiv ist so zwar unmöglich, Fickerts Suche geht aber weiter: „Mein Ideal wäre es in jeder Sprache dieser Welt eine Fibel zu besitzen.“ Zum Abschied bittet er darum noch um Mithilfe: „Wenn Sie zufällig mal nach Osttimor oder in den Kongo kommen, bringen Sie mir doch bitte eine Fibel mit.“

Die Ausstellung „Schulfibeln aus aller Welt“ in der Universitätsbibliothek, Schuhstraße 1a, ist noch bis zum 8. Oktober während der UB-Öffnungszeiten zu sehen.Video zum Thema Fibeln unter www.erlanger-nachrichten.de