Die Verästelungen und das Liniengeflecht

17.7.2012, 00:00 Uhr
Die Verästelungen und das Liniengeflecht

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Das Bild, das wir uns von der Erde machen, beruht auf der traditionellen Kartographie, die wir korrekt als Abstraktion von der Wirklichkeit wahrnehmen, ein schematisches Zeichensystem, das keinen Anspruch an Anschaulichkeit stellt. Die Satellitenfotos dagegen geben vor, die tatsächliche Wirklichkeit abzubilden.

Das aber ist offensichtlich eine Illusion, weil es sich nur um Momentaufnahmen handelt. Die faktische Wirklichkeit, nicht nur von Flussmündungen, ist einem ständigen Wandel unterworfen. Die gewaltige Entfernung reduziert aber vor allem die organische Wirklichkeit wieder auf ein abstraktes Geflecht von Linien, von hellen und dunklen Flecken.

Sabine Schellhorn gründet die Wahrnehmung ihrer Bilder eben darauf, dass deren wandelbare Wirklichkeit auf einem vieldeutigen Geflecht aus Linien und Schwärzen beruht. Die Illusion einer exakten geographischen Abbildung ist aufgegeben, und die Distanz zwischen Himmel und Erde spielt keine Rolle mehr. Die Zeichnerin, die aus Oberfranken stammt und in Bremen lebt, ist entschlossen, der wahrgenommenen Wirklichkeit nahe zu treten, und der Betrachter ist aufgefordert, ihr darin zu folgen. Die Bilder weisen alle eindeutigen Lesarten von sich. Nähe und Ferne sind als Relationen der Wahrnehmung entlarvt. Geographische Makrostrukturen können sich in organische Mikrostrukturen verwandeln. Die Flussläufe des Deltas korrespondieren mit den Verästelungen von Bäumen, mit Wurzelwerk und Blutkreislauf. Den Assoziationen eröffnen sich immer neue Bildräume.

Sabine Schellhorn ist damit beschäftigt, den Aktionsbereich der Grafik ständig zu erweitern. Bildserien, die sich als Ausschnitte aus den großen Lineaturen lesen lassen, entwickeln sich durch den Einsatz von breiten Textmarkern zu einer zeichenhaften Malerei. Weitläufige Verästelungen erscheinen im Mosaik aus Mini-Steckern als abstraktes Muster, das durch Umstecken der Bauteile verändert werden kann. Damit ist auch das Bildformat variabel geworden. Vollständig außer Kraft gesetzt ist es in den „Teppichcuts“. Die aus Teppichware geschnittenen Netze lassen sich den jeweiligen räumlichen Gegebenheiten ohne Bildträger anpassen.

Man versteht Sabine Schellhorn wohl richtig, wenn man ihre mäandernden Gespinste als eine wuchernde Form versteht, die wie eine Schlingpflanze den Raum besetzt.

Sabine Schellhorn: „DELTA“. Galerie des Kunstvereins, Hauptstraße 72. Bis 4. August, Di., Mi., Fr. 15 bis 18 Uhr, Do. 15 bis 19 Uhr, Sa. 11 bis 14 Uhr.

 

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