Erlangen: Autisten haben keine schützenden Filter

15.3.2015, 06:24 Uhr
Erlangen: Autisten haben keine schützenden Filter

© Foto: Fabian Stratenschulte/dpa

Hinein ins Schulhaus, den Flur nach rechts entlang laufen, dann rechts die Treppen hinauf in den ersten Stock, oben links abbiegen, die zweite Tür auf der linken Seite – und schon sind die Viertklässler im richtigen Klassenzimmer. Gar nicht so schwer, oder? Die meisten Kinder bewältigen den Weg innerhalb ihres Schulhauses ohne jegliche Probleme. Bei Franz (der in Wirklichkeit anders heißt) wird genau dies jedoch zur unüberwindbaren Hürde.

Keine Gegenliebe

Der Schüler hat eine Ausprägung von Autismus, bei der räumliche Orientierung sehr schwierig ist. Dafür hat er ein außerordentlich gutes Gehör. Die Stimme seines Lehrers hört er durch die Klassenzimmertür hindurch schon im Erdgeschoss. Deshalb löst er sein Orientierungsproblem auf ganz eigene Art. Er kommt einfach erst in die Schule, wenn der Unterricht bereits begonnen hat. Dann hat er kein Problem, sich zurechtzufinden. Dumm allerdings, dass sein Zuspätkommen beim Lehrer nicht auf Gegenliebe stößt.

Die Rahmenbedingungen in der Schule sind ein Aspekt, den Christine Rittmaier-Matzick , die Koordinatorin des MSD-A, und ihre Kollegen genauer unter die Lupe nehmen, wenn sie einen Schüler mit Autismus unterstützen. Für Erlangen und den Landkreis Erlangen-Höchstadt ist die Koordinatorin zusammen mit Barbara Hippler und Thomas Bleicher zuständig. „Klassenzimmerwechsel beispielsweise sind oft schwierig“, sagt Christine Rittmaier-Matzick.

Wie auch manches andere. Schwierig wird es meist nicht nur für die Betroffenen, sondern auch für die Lehrer. Oftmals geht es darum, besondere Verhaltensweisen solcher Schüler richtig einordnen zu können — und dann, richtig damit umzugehen. Dass Autismus eine — vermutlich genetisch bedingte — Entwicklungsstörung beziehungsweise Behinderung ist, die in vielerlei Ausprägungen und Schweregraden auftritt und mitunter sogar erst sehr spät diagnostiziert wird, macht die Sache nicht leichter.

„Besondere Wahrnehmung“

Ohnehin zögert Christine Rittmaier-Matzick bei der Wortwahl. „Menschen mit Autismus wollen nicht als Menschen mit Behinderung benannt werden“, sagt die Sonderschullehrerin. Lieber formuliert sie es deshalb so: „Es sind Menschen mit einer besonderen Wahrnehmung.“ Statt von verschiedenen Diagnoseformen wie Asperger-Autismus — mit mindestens normaler Intelligenz, meist sehr guter Sprachentwicklung, aber oft motorischen Problemen — oder frühkindlichem Autismus — verbunden mit Mehrfachbehinderung, auch geistiger Behinderung — zu sprechen, verwendet sie den inzwischen von Fachleuten bevorzugten Begriff Autismus-Spektrum-Störung. Dieser macht deutlich, wie breit die Symptome gefächert und wie fließend die Übergänge sind.

Bei allen Unterschieden gibt es jedoch eine Übereinstimmung: „Menschen mit Autismus nehmen ihre Umgebung ohne Filter wahr“, sagt sie. Häufig treten Über- oder Unterempfindlichkeiten gegenüber bestimmten Sinneseindrücken auf — von Geräuschen über Gerüche bis hin zum Geschmack. Da Verhalten durch die Wahrnehmung beeinflusst werde, bewirke die „andere“ Wahrnehmung auch ein „anderes“ Verhalten, so Rittmaier-Matzick. Hinzu kommt, dass Menschen mit Autismus auch bei hoher Intelligenz Gesagtes oft sehr wörtlich nehmen.

Da verwundert es nicht, dass Kinder mit Autismus aufgrund dieses „Andersseins“ leicht zu Mobbingopfern werden. Oder von Lehrern missverstanden werden. „Wie die Ärztin und Psychotherapeutin Christine Preißmann, die das Asperger-Syndrom hat und Betroffenen in ihren Büchern und in Interviews eine Stimme gibt. Sie schildert beispielsweise eine Episode aus ihrer Schulzeit. Eine Klassenkameradin sagte, das Federmäppchen müsse man in den Müll werfen, weil der Reißverschluss hake. Preißmann nahm das wörtlich und warf es daraufhin in den Mülleimer. Dafür habe sie einen Klassenbucheintrag bekommen, erinnert sie sich noch als Erwachsene. Und dass sie sich gewünscht hätte, der Lehrer hätte sie gefragt, wie sie auf eine solche Idee käme.

Kein Wunder also, dass Preißmann heute sagt: „Für viele Menschen mit Autismus stellt die Schulzeit die bei weitem schlimmste Zeit ihres Lebens dar.“ Preißmann selbst bekam die Diagnose Asperger-Syndrom erst im Alter von 27 Jahren. Heute wird Asperger manchmal immer noch spät, etwa im Jugendalter, diagnostiziert. Vor allem aber auch häufiger als früher. Insgesamt, so Barbara Rittmaier-Matzick, gehe man davon aus, dass einer von 150 Menschen eine Autismus-Spektrum-Störung hat.

Daran, dass die Schulzeit nicht so hart wird, arbeiten Barbara Rittmaier-Matzick und ihre Kollegen. Immer wieder werben sie auch für Verständnis. „Für nicht geübte Beobachter schaut es so aus, als seien das Kinder, die von ihren Eltern nicht gut erzogen wurden“, sagt Barbara Rittmaier-Matzick.

Abitur mit 1,0

Der MSD-A vermittelt zwischen verschiedenen Diensten, bietet Fortbildungen für Lehrer an, berät Schulen auf deren Anfrage hin, hilft bei der Einschulung und den Übergängen. Da Inklusion mittlerweile Aufgabe aller Schularten ist, wird Menschen mit Autismus heute, anders als früher, der Besuch der Schulart ermöglicht, die ihren kognitiven Fähigkeiten entspricht — also oft auch des Gymnasiums. In Mittelfranken hat letztes Jahr eine solche Schülerin ihr Abitur mit dem Notenschnitt 1,0 gemacht.

„Wir fragen, wie müssen Umfeld und Schule gestaltet sein, damit ein Mensch mit besonderer Wahrnehmung möglichst weit kommt“, sagt Barbara Rittmaier-Matzick. „Wo ist zum richtigen Zeitpunkt der richtige Ort, damit jeder ein aufrechter Mensch werden kann?“

Und sie freut sich, dass es diese Freiheit heute gibt.

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