Erlangen: Ein Mann zwischen Leben und Tod

1.4.2018, 07:00 Uhr
Erlangen: Ein Mann zwischen Leben und Tod

© BarLev's/shutterstock.com

Vielleicht, sagt Paul Krämer, hat er das Paradies gesehen. Zweimal lag es vor ihm im August 2008, als durchs Fenster der Erlanger Uniklinik die Sommersonne warme Strahlen warf und seine Frau Helga wie immer auf einem Stuhl neben ihm saß, voller Sorge, ob ihr Mann jemals wieder aus dem Koma erwachen werde.

Wunderschön war es, das Paradies, sagt Paul Krämer, er wäre eigentlich gern hinübergegangen. Eine Stimme ermunterte ihn sogar dazu: "Komm zu uns", sagte sie, "komm herüber." Krämer sah einen alten, hölzernen Gartenzaun. Das kleine Törchen stand offen. "Ich glaube, ich hätte nur hindurchgehen müssen", sagt der heute 79-Jährige, der zwischen Forchheim und Erlangen wohnt und eigentlich ganz anders heißt. Hinter dem Zaun erstreckte sich eine Wiese voller blühender Blumen, ein blauer Himmel stand darüber, alles wirkte sorglos, friedlich, wunderbar.

Und so fühlte sich auch Paul Krämer in diesem Moment: ohne Schmerzen, ohne Kummer, ohne Angst. Er spürte den Lungenschnitt nicht, die Sonden, die Wunden, die ihm die Ärzte in der Notoperation beigebracht hatten. Er fühlte sich jung, leicht, stark und gesund. "Ich glaube", sagt Paul Krämer, "wenn ich durch das Törchen gegangen wäre, wäre ich gestorben."

Vor dem Sterben hatte er gar keine Angst, das war noch nie das Problem. Mit dem Sterben, sagt er, ist das so eine Sache, seitdem seine Schwester und er mit fünf Jahren auf eine Kutsche voller Hab und Gut gestiegen waren in den Wirren des Kriegsendes. Aus Schlesien ging es zu Fuß und mit Pferdewagen bis nach Franken. "Das Leben und das Sterben", sagt auch Helga Krämer, "dazu haben wir ein anderes Verhältnis. Wir haben uns nie den Kopf zerbrochen, wann es so weit ist. Es hätte jeder Moment sein können." Auch sie war erst drei Jahre alt, als sie an der Hand der Mutter in den Zug stieg — nur fort vor dem anrückenden Feind, nur fort von zu Hause. Das Nötigste hatten sie in einem Köfferchen, nicht einmal Erinnerungen sind Helga Krämer geblieben.

Dass es ein Paradies gibt, sagt ihr Mann, das hat er schon immer angenommen. Beide glauben sie an Gott, besuchen regelmäßig die Kirche – mal die Katholische seiner Frau, mal seine Evangelische. "Dass da oben jemand ist", sagt Paul Krämer, "da bin ich mir sicher." Wie sein Garten aussehen könnte, das weiß er jetzt auch – tröstlich findet er das, "wo es doch so viele Menschen gibt, die schlimm leiden müssen". Für sie, sagt er, freut ihn das ganz besonders: "Wenn das wirklich nicht nur ein lebendiger Traum war, sondern das, was kommen wird, dann ist das eine sehr schöne Sache."

Doch das Paradies hatte einen Haken im August 2008: Auf der anderen Seite des Zauns war niemand. Paul Krämer wäre allein über die Wiese des Herrn spaziert. Und so betörend der Blumenduft, so laut das Vogelzwitschern, so friedvoll der Augenblick – "ich bin jemand, der Gesellschaft braucht, wissen Sie?". Paul Krämer ist deshalb nicht durch dieses Türchen gegangen. Nicht beim ersten Mal. Und auch nicht, als das gleiche Bild wenig später noch einmal in seinem Kopf erschien. Das erste Mal hat die Blumenwiese in hellblauer Blüte gestanden, das zweite Mal in einer rötlichen. "Wir dachten, als er nach sechs Tagen aus dem Koma erwachte und von der Wiese erzählte: Naja, das gehört eben zu dem wirren Zeug, das man dann so redet", sagt Helga Krämer. Gemeinsam mit ihrer Tochter hat sie tagtäglich bis spät am Abend am Bett gesessen. Ihr Mann lag verkrampft im Koma, sie trocknete ihm mit einem Tuch und viel Liebe die kalten Schweißtropfen. Sie öffnete unter Anstrengung die geschlossenen Fäuste, um seine Hände zu reinigen. Die Tochter rasierte ihrem Vater die Bartstoppeln. "Es war unglaublich anstrengend", sagt Helga Krämer, mental, wie seelisch, wie körperlich.

In der Wohnung war Paul Krämer nach einer offensichtlich misslungenen, kleineren Operation am Hals plötzlich unter Atemnot zusammengebrochen. Er drohte innerlich zu verbluten. Wären Tochter und Mutter und ihre Hartnäckigkeit gegenüber Ärzten nicht gewesen, Paul Krämer sagt, er hätte wohl viel früher schon durch dieses Türchen gemusst. "Meinen beiden Frauen", sagt er, und dazu füllen sich die Augen mit Tränen, "verdanke ich, dass ich noch hier bin."

Von einer Woche seines Lebens fehlen Paul Krämer jetzt jegliche Erinnerungen. "Ich weiß nur noch, wie ich mich zu Hause am Treppengeländer festklammere – und dann wieder, wie ich im Krankenbett in der Klinik liege." Dazwischen liegen die Blicke aufs Paradies, von denen sich heute auch Frau und Tochter nicht mehr so ganz sicher sind, ob es wirklich nur irre Fantasien eines Körpers sind, der vollgepumpt mit Medikamenten und einem eigenen Hormoncocktail ums Überleben kämpft. "Es kann so sein", sagt Helga Krämer, "aber wer weiß denn sicher, dass es so ist?" Niemand weiß, wie groß das Universum ist, niemand, wie klein wir sind im Kosmos der Unendlichkeit. Dinge zwischen Himmel und Erde, die man nicht erklären kann. Aber muss man das überhaupt können?

Paul Krämer sagt, nach dem Aufwachen, da habe er abgemagerte Tauben über sich gesehen und Ratten, die kreuz und quer an der Klinikdecke durch den Dreck liefen. Geschimpft hat er daraufhin, und Helga Krämer hat sie nicht gesehen, aber für ihn das Fenster geöffnet. "Dann hat es all das, was ich sah, regelrecht hinausgesaugt", sagt ihr Mann.

Seit August 2008 sind das die letzten fantastischen Dinge, die Paul Krämer erlebt hat – oder auch nicht. Für Träume oder Fantasien, sagt er, waren sie zu unmittelbar, zu lebendig, zu bewusst. Aber vielleicht waren es ja auch nur Träume. Und wenn schon.

Jedes Jahr am 2. August, dem Tag, an dem ihm seine Frau und Tochter das Leben gerettet haben, feiert Paul Krämer seit zehn Jahren sein Überleben. "Es ist ein wenig wie ein zweiter Geburtstag." Er lädt sie alle schick zum Essen ein, und dann drückt er sie auch einmal fest an sich. Oder zweimal. "Ich bin jetzt fast 80", sagt Paul Krämer, "jedes Mal könnte ja das letzte Mal sein." Vor dem Tag, an dem die Stimmen zurückkehren und der kleine, alte Holzzaun mit der wunderschönen Wiese, sagt er, hat er keine Angst. Wenn es wirklich soweit ist, wird er bereit sein und hindurchgehen.

"Hinter dem Gartenzaun

lag eine Wiese voller

blühender Blumen"

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