"Erlanger Baby" löst ein Umdenken in der Medizin aus

16.11.2017, 18:16 Uhr
Künstlich hielten Erlanger Ärzte im Herbst 1992 den Körper einer hirntoten Schwangeren auf der Intensivstation am Leben, so dass sie ihr Baby austragen konnte. 40 Tage lang ging das gut. Dann erlitt die 18-Jährige eine Fehlgeburt. Das "Erlanger Baby" starb.

© zffoto/Shutterstock.com Künstlich hielten Erlanger Ärzte im Herbst 1992 den Körper einer hirntoten Schwangeren auf der Intensivstation am Leben, so dass sie ihr Baby austragen konnte. 40 Tage lang ging das gut. Dann erlitt die 18-Jährige eine Fehlgeburt. Das "Erlanger Baby" starb.

Wie es ihm geht? Wo er seit seiner Adoption lebt? Welche Rolle sein Fall noch heute für ihn persönlich spielt? Man weiß es nicht und muss seinen Wunsch, nicht kontaktiert zu werden, respektieren. Bekannt ist vom "Erlanger Jungen" deshalb nur so viel: Das gesunde Baby, das eine Wachkoma-Patientin im Frühsommer 2008 per Kaiserschnitt im Erlanger Universitätsklinikum zur Welt brachte, ist inzwischen neun Jahre alt.

Von seiner Existenz, die nach wie vor als medizinisches Meisterstück gilt, erfuhr die Öffentlichkeit erst eineinhalb Jahre nach der Geburt. "Und das war auch gut so", urteilt mit Andreas Frewer einer, der es wissen muss. Der Inhaber der Professur für Ethik in der Medizin an der Universität Erlangen-Nürnberg ist nicht nur Leiter der Geschäftsstelle des seit 17 Jahren existierenden Klinischen Ethikkomitees.

Er war auch einer derjenigen, die an jenem Heiligabend 2007 entscheiden mussten, ob und wie es mit dem ungeborenen Kind weitergehen sollte – und, natürlich, auch mit seiner Mutter. Sollten die Ärzte deren ohnehin schlechten Gesundheitszustand durch riskante Eingriffe weiter schwächen, um die Gesundheit ihres Kindes zu fördern? Oder das Leben des Babys aufs Spiel setzen, um den Heilungsprozess der Mutter nicht zu gefährden? Die Frau, eine 40-Jährige, hatte während der Frühschwangerschaft durch einen Herzinfarkt eine schwere Hirnschädigung erlitten und war nach der Reanimation ins Koma gefallen. Was also tun?

Chance für ungeborenes Kind

Matthias Beckmann, der seinerzeit wie heute als Direktor die Uni-Frauenklinik leitet, beriet sich erst einmal mit Ethiker Frewer und einem Anästhesisten. Schnell war klar, dass sie nicht nur die schwangere Patientin, die zunächst in einem kleineren Krankenhaus behandelt worden war, am Uni-Klinikum aufnehmen, sondern auch alles für ihr ungeborenes Kind tun wollten. Alle zwei Wochen stellten der Experten fortan ihre Entscheidung auf den Prüfstand.

Wochenlang kamen die Ärzte des Erlanger Uni-Klinikums im Herbst 1992 nicht aus den Schlagzeilen. Ihr Versuch, das ungeborene Kind der hirntoten Schwangeren zu retten, brachte ihnen heftige Kritik ein, unter anderem diese Wandschmiererei: "Jetzt Menschen- statt Tierversuche!"

Wochenlang kamen die Ärzte des Erlanger Uni-Klinikums im Herbst 1992 nicht aus den Schlagzeilen. Ihr Versuch, das ungeborene Kind der hirntoten Schwangeren zu retten, brachte ihnen heftige Kritik ein, unter anderem diese Wandschmiererei: "Jetzt Menschen- statt Tierversuche!" © Claus Felix/dpa

"Wir haben umgehend einen Fachkreis gebildet, der allen Beteiligten rund um die Uhr zur Seite stand", wird Frewer später im Klinik-Jahrbuch 2009 berichten. In der Runde, die bis zur Entlassung von Mutter und Kind konsultiert wurde, saßen rund ein Dutzend Mitarbeiter aus allen relevanten Fachbereichen.

Damit unterschied sich das Vorgehen deutlich von dem hitzig debattierten Fall des "Erlanger Babys" im Jahr 1992, als nicht einmal Pfleger und Ethiker einbezogen worden waren. Damals war eine 18-jährige Schwangere aus Altdorf (Kreis Nürnberger Land) bei einem Autounfall so schwer verunglückt, dass sie ein Schädel-Hirn-Trauma erlitt und wenige Tage später für hirntot erklärt wurde.

Dennoch entschieden sich die Mediziner am Erlanger Uni-Klinikum dazu, den Körper der Frau mit künstlicher Beatmung und künstlicher Ernährung am Leben zu erhalten, um ihrem ungeborenen Kind eine Chance zu geben – und lösten damit republik- wie weltweit ein riesiges, kontroverses Echo aus. Die Frau war zu diesem Zeitpunkt in der fünfzehnten Woche schwanger.

Zwar hatte bereits im Jahr davor eine hirntote Frau in Stuttgart einen gesunden Jungen entbunden. Doch bis heute ist die Zahl derartiger Fälle mit international nur mehreren Dutzend gering. Allerdings, meint Frewer heute, könnten Mediziner künftig häufiger mit solchen Herausforderungen konfrontiert sein, unter anderem deshalb, weil die Zahl älterer Schwangerer weiter zunimmt.

Demos und Graffitis

Wird hier eine sterbende Frau zum "biologischen Brutkasten" degradiert? Dies fragten sich manche in jenem Herbst 1992. Ist die Entscheidung, die ein rein mit Männern besetztes Gremium teils gegen den Willen der Eltern getroffen hat, nicht schlicht unangemessen? Auch der Vater der Altdorferin meldete sich zu Wort. Eine seiner Sorgen: Seine Tochter könnte als "Versuchskaninchen" missbraucht werden.

Es gab Demonstrationen, Graffiti an der Klinik verglich das Verhalten sogar mit Nazi-Medizin. Strafrechtler hingegen argumentierten, das Kind habe ein Recht auf Leben. Dennoch stellte der in Branchenkreisen als Kritiker bekannte Chirurg Julius Hackethal – letztlich erfolglos – Strafanzeige gegen die behandelnden Ärzte, unter anderem wegen Körperverletzung.

Derweil entwickelte sich der Embryo in der hirntoten Frau, deren leblose Gliedmaßen die Schwestern zu Vivaldi-Klängen bewegten. 40 weitere Tage lang wuchs das Baby. Dann nützten alle Mühen nichts mehr. Die Patientin, der zuvor wegen einer Entzündung ein Auge hatte entfernt werden müssen, erlitt infolge einer weiteren Infektion eine Fehlgeburt - in der 19. Schwangerschaftswoche. Das "Erlanger Baby" war tot. Die Maschinen, die den Körper der Zahnarzthelferin am Leben gehalten hatten, wurden noch am selben Tag abgestellt.

Es war ein Wunschkind

"Der Abwägungsprozess ,Situation der Mutter/Überleben des Babys’ war im Fall der Koma-Patientin ethisch schwieriger als bei der hirntoten Frau 15 Jahre davor", sagt Frewer im Rückblick. Der toten Frau konnte schließlich nicht mehr vital geschadet werden. Bei hirntoten Menschen sind alle Hirnfunktionen irreversibel ausgefallen, bei Wach-Koma-Patienten hingegen nur Teile. Dadurch wirken die Betroffenen wach, haben aber aller Wahrscheinlichkeit nach kein Bewusstsein und nur sehr begrenzte Möglichkeiten der Kommunikation.

Doch davon ließ sich die Familie der Koma-Patientin nicht beirren. Sie brachten besprochene Kassetten mit in die Klinik, um Mutter und Kind positiv anzuregen. Sie streichelten die Patientin und redeten mit ihr. Ob die Koma-Patientin ihr Kind wollte? Aus dem Umfeld der Frau, wird Prof. Beckmann zitiert, habe man gewusst, dass es sich um ein Wunschkind handelte. "Daher", bekräftigte Frewer, "war für uns der Wunsch der Mutter, ein gesundes Kind zu bekommen, sehr wichtig."

Rund 150 Tage nach dem Herzinfarkt der Patientin holte Beckmann per Kaiserschnitt einen gesunden Jungen auf die Welt. Die Hebamme, berichtete Beckmann, legte das fast zweieinhalb Kilo schwere Kind der Frau auf die Brust, um ihr Nähe und einen gewissen Abschied zu ermöglichen. Während die Mutter wenig später in eine heimatnahe Pflegeeinrichtung verlegt wurde, betreute die Uni-Kinderklinik zunächst das Baby weiter, später kam es in die Obhut von Pflegeeltern.

Das Beste daraus gemacht

Erst 18 Monate später, als klar war, dass die Familie nicht mehr so leicht behelligt werden konnte und sich das Kind altersgemäß entwickelte ("putzmunter"), ging das Uni-Klinikum im Konsens an die Öffentlichkeit. Anders als 1992 blieb dieses Mal der Aufschrei aus. Schnell war stattdessen vom "Wunder von Erlangen" oder vom "Wunderbaby von Erlangen" die Rede. Tatsächlich sind bis heute nur wenige vergleichbare Fälle bekannt, in denen Medizinern bei einer Wachkoma-Patientin nach einem Herz- oder Hirninfarkt ein ähnlicher Erfolg gelungen wäre.

"Wir haben aus dem Fall des ,Erlanger Babys’ gelernt, sind verantwortungsvoll mit den modernen medizinisch-technischen Möglichkeiten umgegangen und haben von Beginn an das Ethikkomitee eingeschaltet", sagte Beckmann bei der Pressekonferenz – es gab die weltweit größte Resonanz in der gesamten Geschichte der Universität.

Neben medizinischen Fragen standen stets auch ethische Aspekte im Fokus. Zum Beispiel: Wie können fachliche Ergebnisse mitgeteilt werden, ohne die Privatsphäre der Beteiligten zu verletzten? Welche Probleme können sich für Betroffene und Angehörige durch öffentliche Debatten ergeben?

Ziemlich gravierende, meinten die Experten, wie sie der Fall des "Erlanger Babys" gelehrt hat. Daher hielten beim "Erlanger Jungen" alle Beteiligten dicht. Kind, Mutter, Angehörige und die Klinik-Mitarbeiter sollten abgeschirmt werden, um Druck zu vermeiden – und dem Jungen, ein unbeschwertes Aufwachsen zu ermöglichen.

"Der ,Erlanger Junge’ hatte die denkbar schwierigsten Startbedingungen", sagt Frewer. "Wir haben das Beste daraus gemacht. Seine Mutter würde sich sicher darüber sehr freuen."

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