Erlanger Wöhrmühle ist mehr als ein Schlafplatz

18.1.2017, 06:00 Uhr
In Großstädten gibt es kaum genügend Unterkünfte für Obdachlose. In Erlangen hingegen schon. (Symbolbild)

© dpa In Großstädten gibt es kaum genügend Unterkünfte für Obdachlose. In Erlangen hingegen schon. (Symbolbild)

Es ist ein modernes, weißes Klingelschild. Ein breiter Knopf zum Drücken, den man bei diesen nächtlichen Minusgraden auch mit dicken Handschuhen und zittrigen Fingern leicht erwischt. Dann surrt der Türöffner. Nur einen Schritt später umhüllt einen die Wärme wie eine weiche Decke. Es riecht nach Zigaretten. Über eine knarzende Treppe geht es nach oben in den ersten Stock und in ein Zimmer, in dem es noch viel wärmer ist. Hier sitzen auf alten Bauernstühlen Hans Gobert und Werner Lange (Namen geändert).

Alles, was die beiden Männer besitzen, passt in einen schmalen Schrank. Ein paar Klamotten, Winterschuhe, eine dicke Jacke. Gobert hat zusätzlich noch ein Fahrrad, er nennt es „Emma“. In den Wintermonaten, in denen man nicht draußen schlafen kann, verbringen die beiden viele Abende hier. Woandershin können sie nicht. Hans Gobert und Werner Lange sind obdachlos.

Wobei — obdachlos sind sie nicht. Zumindest würden sie es niemals so nennen. „Wir haben ein Obdach, eine Herberge, hier“, sagt Lange. „Wir sind wohnungslos.“ Er ist ein kleiner Mann mit weißen, kurzen Haaren, die in alle Richtungen abstehen. Aus seinem runden Gesicht strahlen einen blaue Augen und ein breites Lächeln an. Manchmal zuckt der 69-Jährige, stottert, dann schaut er kurz aus dem Fenster hinaus in die tiefschwarze Nacht.

„Ich bin früher viel per Anhalter gefahren. Da hat mal einer zu mir gesagt: ‚Was, Du lebst auf der Straße?‘ Er konnte es nicht glauben, weil ich so gepflegt aussah.“ Lange lacht laut in die Runde, als wäre es ein schlechter Witz. Dann sagt er: „Diese Vorurteile. Dabei habe ich mich schon immer gut gepflegt.“ Sein bordeauxroter Strickpulli, die dunkle Hose, die Wollsocken und die schwarzen Stiefel wirken kein bisschen verschlissen. Das Klischee eines schäbigen, stinkenden Penners erfüllen weder er noch Hans Gobert. Im Aufenthaltsraum riecht es nur nach abgestandenem Zigarettenrauch.

Und das Zucken? „Das Leben auf der Straße bringt eben einiges mit sich.“ Lange ist von zu Hause weg, als er 23 Jahre alt war. Gobert ist schon als 19-Jähriger abgehauen. „Ich bin in der ehemaligen DDR aufgewachsen, als es noch keine Mauer gab. Da wollte jeder Richtung Westen.“ Auch seine fünf Geschwister hätten die Heimat verlassen, gen Nordrhein-Westfalen. Nur Gobert ist woanders hin. „Ich war ein Wandersmann, war überall in Bayern, aber auch in Holland oder Belgien, auf der Straße und am Meer.“

Heute ist er 77 Jahre alt, den Vormittag hat er beim Arzt verbracht. „Aber das ist so eine Sache ohne Krankenversicherung.“ Gobert hat nur noch wenige Haare auf dem Kopf und noch weniger Zähne, wenn er redet, nuschelt er. Seine Nase ist etwas knollig. Ob er trinkt? „Seit 2013 bin ich trocken.“ Und Lange? „Alkohol? Nee, nur Wasser.“ Beide Männer kennen sich schon seit Jahrzehnten. Die Erlanger Wöhrmühle besuchen sie seit den Neunzigern. „So schön wie hier ist es nirgends, die Herbergsmutter ist immer gut zu uns.“

Um das Übernachtungsheim Wöhrmühle kümmert sich seit 30 Jahren Hannelore Ruff. Sie ist Hausverwalterin in dieser Notunterkunft, die von Oktober bis April obdachlosen Durchreisenden Schutz bietet. Von 17 bis 22 Uhr hat das Heim geöffnet, tagsüber gibt es dort noch eine Wärmestube. „Aber den ganzen Tag kann man nicht hier bleiben. Morgens um acht Uhr müssen alle raus“, sagt Ruff. Dann wird geputzt.

Auch wenn immer mal wieder fremde Obdachlose auftauchen, sind es zum großen Teil alte Bekannte, die abends bei Ruff an der Tür klingeln. „Manche waren schon hier, als ich diesen Job noch gar nicht hatte.“ Die 59-Jährige kocht jeden Abend eine frische, warme Mahlzeit. Einen Euro bezahlen die Männer für die Übernachtung, vier Euro fürs Essen. „Vier bis fünf Obdachlose kommen pro Abend. Aber man weiß es nie genau.“ Manche bleiben länger, verschwinden wieder für ein paar Tage, kommen wieder. Auch wenn es so kalt ist wie jetzt, sind es nicht mehr.

Ruff nennt sie „meine Obdachlosen“, über die Jahre hat sie viel mit ihnen erlebt. „Sie sind wie meine Familie, sie haben meinen Sohn aufwachsen sehen, kennen meine Enkel und Freundinnen.“ Auch Weihnachten hat Ruff schon mit den Obdachlosen gefeiert, in ihrem Wohnzimmer. Das liegt direkt neben dem Aufenthaltsraum. „Weihnachten ist für viele eine schlimme Zeit. Jeder reagiert anders, bei manchen kommt der Frust raus.“ Zwar sind viele Obdachlose Einzelgänger, manchmal aber eben auch einsam. Hannelore Ruff kümmert sich dann, wenn sie gebraucht wird. Zu Weihnachten hat sie Gans auf den Tisch gezaubert, sie organisiert Faschingsfeste oder hilft, wenn einer krank ist.

Ganz selten passiert es, dass ein Obdachloser zu betrunken oder aggressiv ist. Dann müsse man eben etwas resolut sein. Angst hat Ruff nicht. „An der Tür entscheide ich. Wenn ich ein mulmiges Gefühl habe, lasse ich die Personalien bei der Polizei überprüfen.“ Ohne Ausweis kommt sowieso niemand rein. „Man weiß ja nicht, wen man vor sich hat.“

Denn letztlich hat jeder einen Grund, warum er auf der Straße lebt. Scheidung, Bankrott oder ein anderer Schicksalsschlag. „Manche erzählen es einem nie, selbst wenn man sich über Jahre kennt“, sagt Ruff. Auch Hans Gobert und Werner Lange reden darüber nicht. „Ich habe zehn Jahre gearbeitet“, sagt der 69-Jährige. „Dann ist etwas Privates dazwischengekommen.“ Seine linke Wange zuckt, der Blick geht Richtung Fenster.

Was sie sich noch wünschen vom Leben? „Nur Gesundheit“, sagt Lange. Gobert nickt. Er würde sich gern weitere Arzttermine ersparen. Materielles wollen sie nicht. Das passt ja nicht in den schmalen Schrank. Auch kein Smartphone, selbst wenn fast jeder eines hat. „Zu kostenintensiv“, sagt Lange. „Überlegen Sie mal, wir haben fast nichts.“ Er sagt das nicht verbittert, Neid gegenüber anderen Menschen verspüre er nicht.

Sobald es wärmer wird, wollen beide Männer wieder los. Aber nicht gemeinsam. „Jeder hat seine Richtung.“ Und wenn es wieder kälter wird, haben sie einen Ort, an den sie zurückkehren können. Sie müssen nur das weiße Klingelschild drücken.

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