Lauschen im Dunkeln

13.12.2018, 18:23 Uhr

Auf allen denkbaren Kanälen hatten die Veranstalter kommuniziert, dass Georg Friedrich Haas’ drittes Streichquartett "In iij. Noct.", "in der dritten Nacht", in völliger Dunkelheit aufzuführen ist, dass daher die Musiker auswendig interagieren müssen, ohne die Möglichkeit des so wichtigen Blickkontakts. Haas hat keine Noten im strengen Sinn niedergeschrieben, sondern eine so genannte Verbalpartitur mit 19 Einladungen, also Klängen, musikalischen Figuren oder Gesten, die von einem Musiker mehrmals angespielt und von den anderen improvisierend aufgenommen und weiter entwickelt werden – alles abgestimmt lediglich über das Ohr. Die Dauer des Stücks hat Haas für mindestens 35 Minuten festgelegt, sollte der "Flow" aber besonders stark sein, gerne länger.

Zentrales Mikrofon

Diszipliniert hatte sich das Publikum rund um das zentrale Mikrofon gesetzt und tapfer den kurzen Dunkelheitstest überstanden, es konnte also losgehen. Die vier Streicher verteilten sich, wie von Haas vorgeschrieben, "in weitest möglicher Entfernung voneinander" in die Ecken des kleinen Saals: Vorne links Simone Heiligendorff (Bratsche), vorne rechts Wolfgang Bender (Violine), hinten links Stefan Häussler (Violine) und hinten rechts Claudius von Wrochem (Violoncello). Zügig verlosch das Licht – komplette Abwesenheit von Licht ist mittlerweile eine Seltenheit –, Stille, dann von vorne rechts ein kaum wahrnehmbares, tonloses Schaben an einer Saite, man traut dem Ohr erst, als es von hinten rechts unterstützt wird, es fliegt durch den Raum, wird von skurrilen, luftigen, sich vermengenden und sich wieder trennenden Obertonakkorden abgelöst und finden sich zu einem Unisono-Klang zusammen.

Höchste Konzentration

Ein lebendiger Unisono-Klang, der zu atmen scheint, der lebt und gelartig die Tonhöhe ändert in langen weichen Strichen. Aus einer Ecke kommt die zarte "Einladung" zur Expressivität, deren Kleinteiligkeit in feinen Pizzicato-Wolken komprimiert wird. Sirenenhaft wandern Obertonakkorde durch den Saal, durch das Publikum hindurch, das längst den Zustand höchster Konzentration erreicht hat. Mit geschlossenen Augen wird die Dunkelheit als Befreiung empfunden, unwillkürliches Grimassieren ist nicht peinlich, von der Musik ausgelöste Handbewegungen irritieren keinen Sitznachbarn, abschweifende Gedanken haben keine Chance, sie rutschen an den ruhig dahin gleitenden Glissandi ab. Kein Mucks stört die wuselig wandernden Triller, die Pracht der gezupften Quadrupelgriffe oder die Andacht beim kurzen Zitat aus einem Responsorium von Carlo Gesualdo.

Nach einer Steigerung zu geradezu orchestraler Klangfülle endet bedauerlicher Weise diese unvergessliche musikalische "Entrückung" in tiefer Stille. Nach rund 60 Minuten geht das Licht langsam wieder an und die Zuhörer – noch nicht wieder ganz zurück in der Realität – bedanken sich begeistert bei den großartigen Musikern des "Kairos Quartetts". Und die Begeisterung beruhte auf Gegenseitigkeit, denn, so gestand der Cellist Claudius von Wrochem, das Publikum habe mit seiner intensiven Aufmerksamkeit diese rekordverdächtige Aufführungszeit erst möglich gemacht.

Verwandte Themen


Keine Kommentare