Lesung in Neunkirchen: Attentat der RAF als Roman

18.11.2015, 06:00 Uhr
Lesung in Neunkirchen: Attentat der RAF als Roman

© F.: Udo Güldner

„Damals war ich selbst noch ein Kind. Ich merkte nur, dass ein Freund meiner Eltern nicht mehr ohne Begleitung zu Besuch kam.“ Es war die Hochzeit des RAF-Terrors, und ohne es zu wissen, war auch Tanja Kinkel mit ihm in Berührung gekommen. Im Zentrum der Handlung steht ein fiktives Attentat auf einen Staatssekretär namens Werder in Nürnberg. Er, der Fahrer und einer seiner Leibwächter sterben. Nur einer überlebt.

Eineinhalb Jahre Recherche und viele Gespräche mit Zeitzeugen, darunter dem realen Staatssekretär Hans de With, der als literarische Folie diente, lassen „Schlaf der Vernunft“ authentisch werden.

Tanja Kinkel nimmt zwar auch die Täter in den Blick. Ihr literarisches und menschliches Interesse gilt aber vielmehr den Opfern. Dem überlebenden Personenschützer, der Familie des ermordeten Politikers, besonders den Kindern auf beiden Seiten. Darin gleicht sie ihrem großen englischsprachigen Vorbild, Sir Walter Scott, der Anfang des 19. Jahrhunderts die geschichtlichen Fakten um „Waverley“ oder „Rob Roy“ mit Geschichten anreicherte und nicht die Berühmtesten, sondern „mittlere Helden“ in den Mittelpunkt rückte.

Charaktere, die in das Geschehen verstrickt werden, ohne es wirklich beeinflussen zu können. Ihre Gefühlslage, ihre Gedanken, ihre Wahrnehmung sind es, die jenseits aller Zeitgeschichte die Zuhörer in den Bann ziehen. Es geht um die innere Geschichte eines Menschen, wie es schon Christoph Martin Wieland kurz vor 1800 gefordert hatte, „nicht nur darum, Personen in ein historisches Gewand zu stecken.“

Hohes Einfühlungsvermögen

Der Sohn des getöteten Fahrers, der die Wahrheit wissen will und beginnt, die letzten Lebensminuten seines Vaters zu rekonstruieren; dessen Witwe, die alle Erinnerung mit Tabletten und Alkohol auszulöschen sucht; der überlebende Leibwächter, der von 25 Kugeln, einem Koma und den Selbstzweifeln gezeichnet ist; der Sohn des Staatssekretärs, der nicht damit fertig wird, dass die Mörder seines Vaters begnadigt werden sollen; die ehemalige Anwältin der Terroristin, die politische Karriere gemacht hat; und nicht zuletzt die Terroristin selbst, die nichts bereut, auch nicht, ihre Tochter verstoßen zu haben, und die sich als „Kriegsgefangene des Schweinestaates“ sieht.

Es ist Tanja Kinkels Blick für das Details, ihrem Einfühlungsvermögen in die Psyche ihrer Figuren und der gleichsam leichthändigen Bewältigung ungeheurer Faktenberge zu verdanken, dass „Schlaf der Vernunft“ ein lesenswertes Buch wird. „Schließlich sind aus den 70er Jahren auch noch einige Wunden offen.“

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