Sparprogramm: Siemensianer in Erlangen begehren auf

23.6.2015, 13:40 Uhr
Sparprogramm: Siemensianer in Erlangen begehren auf

© Giulia Iannicelli

Beim bundesweiten Siemens-Aktionstag am 9. Juni gab es auch Betriebsversammlungen in Erlangen. Wie groß war die Resonanz?

Hans-Jürgen Hartung: Die Resonanz war sehr hoch. Das Interesse war so groß, dass wir im Anschluss an die erste Versammlung noch eine zweite im Kasino für erneut 700 Mitarbeiter auf dem Forschungsgelände ansetzen mussten. Auch da war der Saal voll. Das zeigt, wie groß die Verunsicherung in der Belegschaft ist.

Wie ist die Stimmung unter den Mitarbeitern?

Hartung: Es herrscht viel Demotivation, Orientierungslosigkeit, keiner weiß, wo die Reise enden wird. Es fehlen konkrete Signale, die die Richtung vorgeben, wie man wieder erfolgreich wird und der Personalabbau endlich ein Ende hat.

Bisher setzten viele Siemensianer bei neuen Hiobsbotschaften auf das Prinzip Hoffnung. Inzwischen scheinen Unzufriedenheit und Wut bei den Mitarbeitern größer zu werden . . .

Hartung: Ich denke, die Leute hatten sich von der neuen Führung, speziell von Herrn Kaeser viel erwartet, weil er nach Herrn Löscher wieder ein Eigengewächs ist, das die Firma und die Siemens-Familie noch kennt. Viele wünschen sich wieder das besondere Zusammengehörigkeitsgefühl, das unter seinem Vorgänger nicht mehr geschätzt wurde - und auch jetzt nicht erkennbar ist.

Die Enttäuschung ist also groß.

Hartung: Ja, die Mitarbeiter hatten gehofft, dass wir wieder ein attraktives Unternehmen werden, in dem alle Mitarbeiter komplexe Technologiethemen und Projekte stemmen. Diese Erwartung ist leider nicht erfüllt worden.

Stattdessen werden bei 40-Stunden-Verträgen Stunden reduziert, Verträge nicht erneuert und ausscheidende Kollegen nicht ersetzt. Das erinnert an ein Unternehmen im Untergang, die Gewinne sprechen aber etwas anders.

Hartung: Man muss bei den Gewinnen natürlich anschauen, wie sie zu Stande kommen, dass teilweise auch Finanzgewinne oder Währungseffekte sich dahinter verbergen. Speziell im Energiebereich ist die Situation sicherlich eine schwierige: verursacht durch den Wandel auf dem Markt.

In Deutschland und weltweit.

Hartung: Genau. In Deutschland macht Siemens die Energiewende zu schaffen, die sehr schnell und ohne geklärte Rahmenbedingungen stattgefunden hat. Zugleich ist der internationale Markt zusammengebrochen, weil es sehr viele Krisenregionen gibt. Von daher ist die Geschäfts- und Auslastungssituation wirklich eine schwierige.

Können Sie die Sparmaßnahmen daher nachvollziehen?

Hartung: Die Maßnahmen zur Kapazitätsanpassung sind für uns weitgehend nachvollziehbar, ähnlich wie bei der Finanzkrise 2008. Damals war es für uns eine gute Sache, dass wir mit Zurückfahren von Zeitkonten und Kurzarbeit die Krise überbrücken und die Belegschaft an Bord halten konnten. Jetzt trennt man sich von dem Personal. Das halten wir für einen Fehler. Denn am Ende des Tunnels soll ja wieder der Aufschwung kommen - mit mehr Aufträgen und mehr Wachstum. Obwohl man dann die erfahrenen Leute braucht, gibt man sie und ihr Know how jetzt zu leichtfertig ab.

In vielen Bereichen haben die Mitarbeiter mehr Arbeit als genug, dennoch wird Personal abgebaut. Wie sollen sie so die Margen erreichen?

Hartung: Da klafft die Schere weit auseinander. Wir haben zum einen Spezialisten mit sehr hoher Arbeitsbelastung und dann gibt es aber auch Bereiche, in denen die Kollegen wenig Arbeit haben. Das Zurückfahren von 40-Stunden-Verträgen und von Leih- und Werkarbeit ist in der Phase sicherlich richtig. Das sehr restriktive Vorgehen bei der Übernahme von Auszubildenden ist dagegen unverständlich. Sie sind als Nachwuchs sicher eine sinnvolle Investition in die Zukunft. Hier zu sparen, ist kurzsichtig und schadet unserem Image und der Attraktivität für junge Leute.

Der Krankenstand ist bei Siemens eher hoch. Ist auch das eine Folge der Sparmaßen?

Hartung: Körper und Geist bilden bekanntlich eine Einheit. Wenn man permanent mit negativer Stimmung und Unsicherheit konfrontiert wird, kann das sicher gesundheitsschädigenden Einfluss haben. Mir ist aber nicht bekannt, dass es signifikante Veränderungen beim Krankenstand gibt. Es ist aber denkbar, dass manche Kollegen aus Angst um ihren Arbeitsplatz auch krank zur Arbeit gehen.

Was passiert mit Mitarbeitern, die aufgefordert wurden, sich intern zu bewerben und nichts finden?

Hartung: Wir haben zum Glück das Abkommen von Radolfzell, das den Verzicht auf betriebsbedingte Kündigungen beinhaltet und nicht in Frage steht - insbesondere nicht mehr nach dem großen Aktionstag am 9. Juni. Hier hat die Belegschaft bundesweit eindrucksvoll gezeigt, dass sie die ständigen Restrukturierungen und Personalabbaupläne satt hat. Die Firmenseite hat hoffentlich erkannt, dass der Bogen nicht überspannt werden darf - dass ein Punkt erreicht wurde, der das Fass zum Überlaufen bringen kann.

Denken Sie, dass die Aktionen die Konzernspitze beeindruckt haben?

Hartung: Ich denke, dass sie Eindruck gemacht haben; ich denke auch, dass das, was bei uns am Ingenieursstandort in Erlangen gelaufen ist - der eigentlich immer sehr überlegt auf Firmen-Programme reagiert -, in München angekommen ist. Ich glaube, die aufgewühlte Stimmung in der Belegschaft ist bis oben hin durchgedrungen. Die Interviews von Herrn Kaeser zeigen ja, dass er dünnhäutig geworden ist.

Bei der regulären Betriebsversammlung vor wenigen Wochen haben Sie noch den Hoffnungsschimmer am Horizont gesehen. War es doch nur ein kleiner Sprühfunken?

Hartung: Der Ausdruck ist der bessere, es ist tatsächlich ein Sprühfunke, den man hier zu erkennen glaubt. Der Schimmer am Horizont ist noch vorhanden, weil man jetzt endlich einmal die Richtung im Bereich Power und Gas skizziert hat, in die es laufen kann. Wir müssen mit unseren vorhandenen Vertriebskollegen und deren Kompetenz näher an die Kunden ran und dort um Aufträge kämpfen, aber zugleich Kosten reduzieren - jedoch nicht durch einseitigen Personalabbau. Da ist genug Luft an anderen Stellen. Man muss aber auch einmal durch ein Tal durchgehen dürfen, wenn man über Jahre immer sehr hohe Gewinne in die Siemens AG abgeführt hat.

Die Talsohle hält schon lange an. Auf was werden sich die Siemensianer noch einstellen müssen?

Hartung: Noch viel mehr schrumpfen geht fast schon nicht. Deswegen war es notwendig, einmal ein Zeichen als Arbeitnehmer zu setzen: die Zitrone ist ausgequetscht und es gibt nichts mehr auszuquetschen.

Wie werden Betriebsrat und Gewerkschaft weiter agieren?

Hartung: Es gibt ja verschiedene Sparprogramme, die bereits verkündet sind. Bei vielen stehen Zahlen als Ziele im Vordergrund. Wichtiger wäre die Verbesserung von Arbeitsabläufen und -strukturen. Jetzt müssen wir Betriebsräte darauf achten, dass die Mitarbeiter, die von den Sparmaßnahmen betroffen sind, auch fair behandelt werden. Bei Power und Gas steht nun die Neuausrichtung auf der Agenda. Da werden wir mit der Firma intensiv darüber beraten, ob und wie sich bei den Konzentrations- und Abbauplänen noch Veränderungen zu Gunsten unserer deutschen Standorte und Belegschaften herbeiführen lassen. Dabei bedarf es fundierter Argumente, die wir entsprechend einbringen werden.

Was heißt das für Erlangen?

Hartung: Erlangen wird wohl weiterhin Kernkompetenzzentrum bleiben, der Ort, an dem die Fäden zusammenlaufen, denn Wurzeln kann man nicht verpflanzen. Erlangen ist noch immer sozusagen das Herz von Siemens, selbst wenn die Zentrale in München oder Berlin ist. Es gibt viele wichtige Standorte, es ist auch richtig, dass man global auf der Welt unterwegs ist, aber man muss wissen, wo der Stamm eines Baumes sitzt - und den muss man erhalten.

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