Warum üben Unfälle eine so große Faszination aus?

20.11.2017, 11:00 Uhr
Warum üben Unfälle eine so große Faszination aus?

© Klaus-Dieter Schreiter

Immer, wenn der Piepser Alarm schlägt, wird Friedhelm Weidinger angespannt. Auch nach 20 Jahren ist das noch so, nach Hunderten Einsätzen. "Man versucht, sich aus den Informationen ein erstes Lagebild zu machen", sagt der 48-Jährige. Ein schwerer Unfall, heißt es zum Beispiel, Personen verletzt. "Wenn Kinder darunter sind, Kleinkinder vielleicht, dann trifft mich das besonders. Ich bin ja selber Papa", sagt Weidinger.

Bilder kommen dann zurück in den Kopf, aus Einsätzen, die teils schon Jahre zurückliegen. "So ganz", sagt der Einsatzleiter der Erlanger Feuerwehr, "wird man die nie los."

Warum üben Unfälle eine so große Faszination aus?

© Klaus-Dieter Schreiter

Umso unbegreiflicher eigentlich, dass Unfälle, Blaulicht, verletzte, schreiende, weinende Menschen und schnell umherlaufende Einsatzkräfte eine so große Faszination ausüben. Früher, erzählt Weidinger, hatten sie bei der Erlanger Feuerwehr Decken dabei, um die gierigen Blicke auf Kollegen, die stundenlang Opfer aus Wracks schneiden, oder Verletzte wiederbeleben, abzuschirmen. Seit dem Jahreswechsel haben sie sogar Sichtschutzwände bekommen, 1,80 Meter hoch, acht Meter breit, die sie auf Fahrzeugen mit zum Einsatzort bringen. Seitdem fahren Schaulustige auf der Autobahn aber nur noch langsamer vorbei, um etwas vom Geschehen zu erhaschen. "Durch die Smartphones", glaubt Weidinger, "hat die Gafferei noch einmal zugenommen."

Wenn dann Kollegen, die mehrere Stunden unter emotionalem Stress Schwerstarbeit geleistet haben, Fahrzeuge von Gaffern wie kürzlich in Würzburg mit Wasser bespritzen, kann Friedhelm Weidinger das nachvollziehen. "Aber Schaulustige zu belangen ist nicht unsere Aufgabe, sondern die der Polizei." Ob das erhöhte Bußgeld diese perverse Faszination besiegt, bezweifelt er aber. Dabei ziehen Weidinger selbst Unfälle ja auch an – aus einem anderen Grund: Er wollte schon immer Menschen helfen.

Im Zivildienst ging das los, beim Roten Kreuz, da wurde dieser Instinkt, dieser Lebenstraum, wie er ihn nennt, geweckt. Heute noch fährt er neben dem Führungsdienst bei der Feuerwehr ehrenamtlich auch Rettungsdienst. Der Wunsch zu helfen ist größer als die Angst vor schlimmen Bildern, die sich auf der Seele einbrennen und einen nicht mehr loslassen können. "Natürlich gibt es die", sagt er. "Aber wir lassen niemanden mit diesen Bildern alleine." Ein Großteil der Nachbesprechung wird daher dafür genutzt, um über das zu sprechen, was die Kollegen erlebt haben. "Wenn du eine Woche nach dem Einsatz immer noch nachts aufwachst", sagt Weidinger, "ist es Zeit für externe Hilfe."

Spaßvögel, die plötzlich still werden und in sich gekehrt, hat er schon erlebt. Auch Kollegen, die sich mit seelischen Wunden berufsunfähig melden mussten oder Ehrenamtliche, die irgendwann nicht mehr kamen. "Die Verarbeitung von Einsätzen ist ein wichtiges Thema bei uns. Wir sind alle Menschen, uns lässt nichts kalt – auch wenn wir ein routiniertes Programm abspulen können, um professionell am Unfallort zu helfen."

Es kommt vor, sagt Friedhelm Weidinger, dass er nach einem mehrstündigen Einsatz auf der Autobahn mit schwerverletzten oder vielleicht sogar verstorbenen Kindern nach Hause kommt und erst einmal zu seinen zwei kleinen Buben ans Bettchen tritt. Er muss sie dann meist auch herausheben und einfach mal ganz fest an sich drücken.

Keine Kommentare