"Wenn die Alarmanlage im Körper ständig schrillt"

20.1.2018, 07:00 Uhr

© Harald Sippel

Herr Grießinger, die Menschen in Deutschland werden immer älter. 90 Prozent der über 76-Jährigen berichten von Glieder- und Gelenkschmerzen. Inwieweit gehören Schmerzen zum Älterwerden dazu?

 

Norbert Grießinger: Es muss nicht sein, dass Schmerzen im Alter zunehmen. Die Statistiken zum Beispiel beim Kopfschmerz deuten in eine ganz andere Richtung. Und da sind wir gleich bei den Mythen und Vorurteilen, die in dem Kontext immer wieder auftauchen. Wer denkt, Schmerzen seien ein normaler Bestandteil des Alters liegt falsch. Es gibt sogar Menschen, die meinen, Ältere hätten ein geringeres Schmerzempfinden als jüngere. Das stimmt so nicht.

 

Aber wie lassen sich Schmerzen messen?

Norbert Grießinger: Objektiv geht das gar nicht, denn es handelt sich ja um ein individuelles unangenehmes Sinnes- und Gefühlserlebnis. Bei uns füllen die Patienten einen ausführlichen Fragebogen aus, der unter anderem für die Schmerzstärke eine Skala von 0 bis 10 enthält. Bei chronischen Schmerzen benötigen wir aber noch viele weitere Informationen. Für Menschen, die sich selbst nicht mehr äußern können, weil sie zum Beispiel dement sind, gibt es in den Pflegeheimen spezielle Beobachtungsbögen. Da geht es dann um Mimik, Laute und Ansprache auf Trost.

 

Und ab wann gilt ein Schmerz als chronisch?

Norbert Grießinger: Um es bildlich zu sagen: wenn die Alarmanlage ständig schrillt, obwohl schon lange kein Einbrecher mehr da ist. Akute Schmerzen dauern Sekunden bis Wochen und haben eine wichtige Warnfunktion. Gäbe es sie nicht, würden wir viel früher sterben, weil wir Probleme im Körper nicht mitbekämen. Chronische Schmerzen sind eigentlich nicht vorgesehen, sie folgen keinem festen Programm. Wenn sie monate- oder jahrelang dauern, werden sie zu einer eigenen Erkrankung ohne behandelbare Einzelursache, die die Persönlichkeit des Patienten verändern kann. Er steckt schnell in einem Teufelskreis, denn aus Angst vor neuen Beschwerden bewegt er sich zum Beispiel weniger, nimmt vielleicht zu.

Diese körperlichen Veränderungen haben dann psychische und soziale Auswirkungen, so dass er vielleicht am Ende vereinsamt und gar nicht mehr am gesellschaftlichen Leben teilnimmt.

 

Da kann der Arzt sicher nicht einfach eine Pille geben und alles wird gut. Aber was kann helfen?

Norbert Grießinger: Chronischer Schmerz macht mürbe. Und er ist nicht so einfach loszuwerden, wie ein Schaden am Auto in der Werkstatt. Ein realitisches Ziel der Therapien ist deshalb auch nicht, ihn auf Null zu setzen. Vielmehr bekommt jeder Patient eine individuelle Behandlung. Mit Bewegung, Entspannungsübungen, psychologischer Begleitung und auch mit Medikamenten ist viel zu erreichen. Dafür bieten wir hier am Schmerzzentrum zum Beispiel therapeutische Gruppen für Senioren, teilstationär und stationär.

 

Und wie kann man daran teilnehmen?

Norbert Grießinger: Der erste Weg führt immer zum Hausarzt, der den Patienten dann überweisen kann, wenn es nötig ist. Bei uns erfolgt eine erste Einstufung anhand eines Fragebogens. Anschließend beschäftigen sich ganze Teams aus Ärzten, Psychologen und Physiotherapeuten mit dem Fall.

 

 

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