„Zeitlos zwischen Liebe, Macht und Begehren“

21.8.2014, 19:12 Uhr
„Zeitlos zwischen Liebe, Macht und Begehren“

© Michael Tafelmaier

Herr Fischer, Sie waren mit Marieluise Fleißer befreundet. Wie haben Sie sie kennen gelernt?

Karl Manfred Fischer: Meine erste Begegnung mit ihr war im Sommer 1963 bei einer Lesung, die der Ingolstädter Kunstverein veranstaltete, dessen Leiter ich damals war. Sie las zwei Geschichten, die noch nicht veröffentlicht waren: „Avantgarde“ und „Er hätte besser alles verschlafen“ – der Band mit diesen und weiteren Erzählungen erschien dann im darauf folgenden Herbst unter dem Titel „Avantgarde“ im Münchner Hanser-Verlag. Nach meiner Erinnerung kamen damals zwischen 40 und 50 Besucher zur Lesung. Aus dieser Begegnung entstand dann bis zu ihrem Tod 1974 eine freundschaftliche Beziehung. Wir saßen oft nach gemeinsamen Theaterbesuchen im Weinkeller des „Neuen Schlosses“ bei mehreren Gläsern Wein bis zur Sperrstunde.

Sie haben den 1971 vom Bayerischen Rundfunk produzierten Dokumentarfilm „Das bemerkenswerte Leben der Marieluise Fleißer“ initiert. Fast wäre aus dem Filmprojekt nichts geworden . . .

Fischer: Zum 70. Geburtstag der „Fleißerin“ – sie hatte es gern, wenn man sie so ansprach, wohl weil Brecht dies immer getan hat – , 1971, schlug ich dem Kunstverein Ingolstadt vor, einen Dokumentarfilm über das Leben der Marieluise Fleißer, eine kleine Ausstellung und eine Publikation zu machen. Unser Antrag bei der Stadt Ingolstadt auf finanzielle Unterstützung des Projekts wurde abgelehnt. Da der Kunstverein die Finanzierung des Films nicht leisten konnte, fing ich einfach mit ein paar Freunden auf eigene Kosten mit dem Drehen an. Wir fuhren zusammen mit der Fleißer, zusammengepfercht in einem VW-Käfer, zu Rainer Werner Fassbinder nach München, der dort gerade für das ZDF den Film „ Pioniere in Ingolstadt“ drehte, um Filmaufnahmen von seinen Dreharbeiten zu machen. Im Film wirkten unter anderem Hanna Schygulla, Walter Sedlmayr, Klaus Löwitsch und Harry Bär mit. Nach verschiedenen Ingolstädter Milieu-Aufnahmen mussten wir die Dreharbeiten zu unserem Dokumentarfilm abbrechen, da wir kein Geld mehr zum Weitermachen hatten.

Das bedeutete aber nicht wirklich das Ende . . .

Fischer: Im März 1971 machte der Fernsehjournalist Walter Rüdel einen Filmbericht für verschiedene Fernsehsender über den politisch umstrittenen „linken“ Ingolstädter Kunstverein und schrieb in der „Frankfurter Rundschau“ mehrere Artikel darüber. Bei den Gesprächen dazu erzählte ich ihm auch von meinem abgebrochenen Fleißer-Film-Projekt. Nach einer langen Nacht konnte ich ihn überzeugen, dass er den Film unter seiner Regie macht und eine Filmproduktionsgesellschaft sucht. Ich stellte das bisher gedrehte Filmmaterial zur Verfügung und wurde mit der Redaktion und Assistenz des Films beauftragt, machte Interviews mit Ingolstädtern und organisierte die Drehtermine unter anderem mit Rainer Werner Fassbinder, Martin Sperr, Therese Giehse und Ernst Joseph Aufricht. Der Film wurde dann im Auftrag des Bayerischen Fernsehens produziert und mehrmals zu verschiedenen Anlässen und bei ihrem Tod über alle ARD-Sender ausgestrahlt. Von der Filmbewertungsstelle Wiesbaden wurde er mit dem Prädikat „Besonders wertvoll“ ausgezeichnet. In Ingolstadt selbst löste der Film wegen der kritischen Passagen, die Stadt betreffend, heftige Proteste aus.

Was würden Sie aus Marieluise Fleißers Leben und Werk hervorheben?

Fischer: Erstaunlich war der frühe Ruhm Fleißers als Dramatikerin mit den beiden Stücken „Fegefeuer in Ingolstadt“ und „Pioniere in Ingolstadt“ in den 1920er Jahren in Berlin. 1901 geboren, war die Fleißer zu jener Zeit kaum älter als 25 Jahre. Die bekanntesten Theaterkritiker ihrer Zeit Alfred Kerr, Herbert Ihering und Alfred Polgar feierten enthusiastisch das dramatische Ausnahmetalent. Zu dem neuen kritischen Volksstück, das damals unter anderem mit Ödön von Horvath aufkam und das bis heute fortgeschrieben wird, gehört sie absolut dazu. Dabei kann sie, wie sie oft hervorhob, nur über das schreiben, was sie erlebt und beobachtet hat.

Auch andere Schriftsteller schätzten die Autorin sehr . . .

Fischer: Überzeugt von ihrer dichterischen Qualität waren gerade auch ihre damals schon berühmten Schriftsteller-Kollegen Lion Feuchtwanger und Bert Brecht, die sie jeder auf unterschiedliche Weise förderten und unterstützten. Mit Brecht blieb sie bis zu seinem frühen Tod verbunden.

Nach dem fulminanten Start war Marieluise Fleißer auch später noch produktiv.

Fischer: Ja, während der rund zehn Jahre in der sogenannten Inneren Emigration arbeitete sie ab 1937 an dem Historienstück „Karl Stuart“, das sie im Krieg beendete und schrieb 1944 in rund vier Wochen das Stück „Der starke Stamm“, das vom Münchener Desch-Verlag gleich nach dem Krieg 1945 gedruckt wurde und 1950 von den Münchener Kammerspielen uraufgeführt wurde. Ungewöhnlich war dann aber auch ihr später Ruhm ab den 1960er Jahren im Zuge der Wiederentdeckung des kritischen Volksstücks. Die bayerischen Dramatiker Martin Sperr, Rainer Werner Fassbinder und Franz Xaver Kroetz beriefen sich auf sie. Von ihr selbst wurden diese in einem Essay „Alle meine Söhne“ genannt.

Was macht in Ihren Augen das Werk der Autorin so bemerkenswert?

Fischer: Sie selbst hat das Besondere in ihrer Sprache gesehen. Die literarischen Kenner wie Walter Benjamin oder in der Nachkriegszeit der Herausgeber ihrer Gesammelten Werke, der Theaterfeuilletonist Günther Rühle, bewundern ihre Sprach-Kraft und attestieren ihr, dass sie eine wahre Dichterin sei. Sie formt die deutsche Sprache, den bayerischen Dialekt, den sie aus dem Dialekt herausführt, zu etwas ganz Eigenem.

Inwiefern ist das Werk Fleißers heute noch aktuell?

Fischer: Ihre Stoffe drehen sich, wie sie selbst einmal sagte, „um etwas zwischen Männern und Frauen“ und sind damit schon an und für sich zeitlos. Es geht um Liebe, Macht, Begehren, Schmerz, Leidenschaft und Leiden. Sowohl in ihren Stücken wie in ihren Erzählungen handelt es sich um Menschen alltäglichen Lebens in alltäglichen Begebenheiten. So lassen die Inszenierungen ihrer Stücke Aktualisierungen zu, die auch heute Identifizierungen erlauben. Man hat es gerade wieder an der Inszenierung der Münchener Kammerspiele des „Fegefeuer in Ingolstadt“ gesehen. Die Regisseurin Susanne Kennedy hat mit modernen Stilmitteln der Verfremdung gearbeitet. Die Inszenierung wurde zum diesjährigen Berliner Theatertreffen eingeladen und bekam dort den „3sat“-Preis. Die Schriftstellerin und Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek hält sie für die „größte Dramatikerin des 20. Jahrhunderts“.

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