Anna log

1.9.2018, 13:47 Uhr
Anna log

© Ralf Rödel

Sagt Ihnen das "Anna-Karenina-Prinzip" etwas? Also mir nicht, ich muss erst mal googeln. Aha, Wissenschaftskram, meint Wikipedia: ein Lehrsatz aus der Evolutionsbiologie, der sich auf Tolstois gleichnamigen Roman bezieht. Das Prinzip besagt: Für das Gelingen einer guten Sache müssen viele Faktoren passen –  und passt nur ein einziger Faktor nicht, scheitert die ganze gute Sache.

Anfang August hat die letzte Videothek in Forchheim dicht gemacht. Gerade schließt auch in Nürnberg der einzige Laden, in dem man noch Filme ausleihen konnte. Reisen Sie ruhig durchs Land und suchen Sie anno 2018 eine real existierende Videothek. Dürfte schwer werden. Höchstens in der Nische einer Nische ist da noch was zu finden. Die VHS-Kassette, sie ist so tot wie Julius Cäsar.

Holen wir weiter aus und fragen Sie sich selbst: Wann haben Sie zuletzt einen Film ausgeliehen? Eine CD im Musikgeschäft gekauft? Gar eine Schallplatte aufgelegt? Oder ein Buch aus der Buchhandlung gelesen? Wann hatten Sie (außer dem Smartphone) überhaupt zuletzt was zum Anfassen in der Hand, so richtig physisch? Etwas, bei dem Bilder, Klänge, Geschichten, Wissen auf ein Band gespielt, in eine Scheibe geritzt oder auf ein Blatt gedruckt waren? Vermutlich nicht gerade eben - dieser Text ist digital.

Die Dinge haben sich geändert. Ja, besonders die Dinge: Gegenstände, die Kunst, Kultur und Unterhaltung in sich trugen, sind gegenstandslos geworden. Wertlos. Denn heute zapft man virtuelle Dauerströme an, um Musik zu hören und Filme zu schauen, lädt sich Daten runter, um Romane auf Bildschirmen zu lesen. Das ist fortschrittlich und vor allem saugünstig, bezahlt werden ein paar Groschen in flachen Raten. So kann ich mich jederzeit wie überall davon berieseln lassen – ohne mich lästigerweise wirklich darauf einlassen zu müssen.

Lange vorbei die Zeiten, in denen man sich um seine Musik, seine Filme, seine Bücher kümmern, sie vor Kratzern, Staub und Rissen schützen musste – weil sie uns ja gar nicht mehr gehören: Wir sind nur noch User und sobald wir sie benutzt haben, landet das unantastbare Wegwerf-Wissen wieder auf irgendeinem digitalen Müllhaufen von Anbieter XY. Der Geruch einer Vinylplatte kann nicht gegen die vier Millionen Songs anstinken, die mir Spotify vorschlägt, wenn ich Lust auf "Musik fürs Fitnessstudio" oder "Lieder gegen den Herzschmerz" habe. Und dass die Kassetten mit den alten Alf-Folgen auf dem Dachboden kompostieren, trübt meine Euphorie über die neueste Netflix-Serie kein bisschen.

All das macht nicht nur Musik-, Büchergeschäfte und Videotheken überflüssig: Könnten wir uns nicht auch Kino, Disko-, Biblio- und Pinakotheken inzwischen sparen? Warum ins öffentliche Museum gehen, wenn ich ins private Museum streamen kann? Störende Begleiterscheinungen wie zwischenmenschlicher Kontakt und die mit allen Sinnen (be)greifbare Wertigkeit kreativer Schöpfungen werden so auf ein Minium reduziert. Dafür gewinnen wir ein Höchstmaß an billiger Isolation.

Anna Karenina log, ihr Prinzip müsste lauten: Für das Gelingen einer schlechten Sache muss nur die Internetverbindung passen.

Keine Kommentare