"Für uns war Lützelsdorf Gottes eigenes Land"

31.8.2016, 11:15 Uhr
Ulrich Pohl ist Rentner und lebt als pensionierter Bank-Kaufmann in Bischberg.

© Udo Güldner Ulrich Pohl ist Rentner und lebt als pensionierter Bank-Kaufmann in Bischberg.

Herr Pohl, Sie haben da ein Foto einer Hochzeitsgesellschaft aus dem Mai 1949. Was ist daran so besonders?

Ulrich Pohl: Es zeigt die gelebte Integration. Das Dorf als große Familie. Man sieht am rechten Bildrand die schlesischen Flüchtlinge, die wie selbstverständlich mitfeiern und auch auf das Erinnerungsfoto kommen. Und wer genau hinsieht, erkennt vorne rechts den kleinen Ulrich Pohl mit seinen Eltern, Vater Hermann und Mutter Susanne, eine geborene Hesselmann. Die Braut war übrigens Anna Brütting, eine Tochter des Bürgermeisters, die einen Schneidermeister aus Erlangen ehelichte.

Wie spielte sich denn das Dorfleben so kurz nach dem Kriegsende ab?

Ulrich Pohl: Es gab Tanzveranstaltungen und zu Weihnachten Theateraufführungen im Saal des Gasthauses von Hans Meier. Und sogar eine Kirchweih, obwohl es weder eine Kirche noch eine Kapelle gibt. Die evangelische Mehrheit ging ins benachbarte Wannbach zum Gottesdienst.

Was ist denn das erste in Lützelsdorf, an das Sie sich erinnern können?

Ulrich Pohl: Der Brennnesselgeruch, der zwischen den Scheunen zu vernehmen war. Und meine erste Kerwa als dreijähriger Knirps. Da hatte ich 20 Pfennige „Wegezoll“ von einem Brautpaar bekommen — mein erstes Geld. Der Süßwarenstand zog mich magisch an. Die Versorgung mit Lebensmitteln war auf dem Land gar nicht so schlecht und eine Wasserleitung aus den 30er Jahren gab es auch. Für uns war es nach den vorherigen Entbehrungen Gottes eigenes Land.

Wie kam Ihre Familie denn nach Lützelsdorf?

Ulrich Pohl: Wir mussten unsere Heimat Schweidnitz nahe Breslau bereits im Januar 1945 in einem Lazarettzug verlassen. Meine Mutter und ich flüchteten vor der näher rückenden Roten Armee. Zuerst verschlug es uns nach Taufkirchen an der Pram. Doch im Herbst 1945 mussten alle Reichsdeutschen raus aus Oberösterreich weiter nach Bayern.

Wussten Sie, wohin die Reise geht?

Ulrich Pohl: Nicht einmal, als wir ausgestiegen sind. Mit dem Zug sind wir über Forchheim bis Pretzfeld gekommen. Am Bahnhof erwartete uns ein unübersehbares Gewirr von Kuhgespannen, Leiterwagen, Flachwagen, dazwischen umgebaute Bauernwagen mit Autoachsen und Autorädern. Abmontiert von liegen gebliebenen Fahrzeugen der Wehrmacht. Dort wurde organisiert, aufgeladen, gezählt, verhandelt. Wer wohin mit wem. Die Not wurde verteilt, auf die Orte des Tales und der Berge, auf einsam gelegene kleine Weiler und Höfe hoch oben auf der kahlen Hochfläche, in kleine, geduckte Dörfer und Flecken in den fruchtbaren Tälern. Wir wurden nach einem Zwischenhalt im Pretzfelder Schloss Lützelsdorf zugeteilt. Man sah ein Dorf, kleine winklige Fachwerkhäuser, Scheunen, Ställe, irgendwo brüllten Kühe. „Die haben ja die Misthaufen vor der Tür, das gab es bei uns nicht!“

Als Kind muss das kleine Dorf doch voller Abenteuer gewesen sein . . .

Ulrich Pohl: Ich bin in Lützelsdorf groß geworden, habe dort Laufen gelernt. Der Fußweg nach Pretzfeld oder Wannbach war schon die weiteste Reise. Einen Kindergarten gab es nicht. Es waren ja nur 18 Häuser. Ich war ständig draußen, habe Kühe gehütet, Ähren aufgelesen, beim Heumachen geholfen. Im Sommer haben wir immer in der glasklaren Trubach gebadet. Das war für mich und meine Freunde Jutta und Elke Reuleaux, Ingrid und Wilfried Bienek und Herta Panneker der Spielplatz. Manchmal hat mich Otto Brütting auf dem Tank seines Motorrades mitgenommen. Das Geld für dieses teure Gefährt hatte er als Maurer in Nürnberg und bei Hausschlachtungen verdient.

Nach getaner Arbeit lassen es sich Hermann Pohl (Mitte) und Bürgermeister Georg Brütting (rechts) schmecken, daneben sitzt Gastwirt Hans Meier.

Nach getaner Arbeit lassen es sich Hermann Pohl (Mitte) und Bürgermeister Georg Brütting (rechts) schmecken, daneben sitzt Gastwirt Hans Meier. © Repro: Roland Huber

Wie sah denn der Alltag aus?

Ulrich Pohl: Wir waren im Bauernhof der Familie Brütting, Hausname „Unterer Zöberlein“, nahe dem Ortseingang von Pretzfeld kommend, untergebracht. Dort lebte der Witwer, der im Dritten Reich als überzeugter Katholik durchgehalten hatte, und nach Kriegsende von den US-Amerikanern ins Amt des Bürgermeisters eingesetzt worden war. Bei ihm waren seine drei Töchter Anna, Gunda und Adelinde sowie der Sohn Otto. Der hat später übrigens eine Vertriebene aus dem Sudetenland geheiratet. In dem Haus im Parterre wohnte auch meine damals 60-jährige, äußerst resolute Oma Anna. Sie besorgte den gesamten Haushalt. Der Bürgermeister war über jedes warme Essen froh. Heute ist das Haus renoviert und bietet als „Haus Marie“ eine Ferienwohnung an.

Arbeit fanden Ihre Eltern auch?

Ulrich Pohl: Mein Vater, der aus italienischer Kriegsgefangenschaft kam und uns in Oberösterreich gefunden hatte, war vor dem Krieg als Beamter bei der Reichsbank in Schwidnitz und wurde postwendend von der Reichsbank in Bamberg weiterbeschäftigt. In Lützelsdorf machte ihn Bürgermeister Georg Brütting deshalb zum Gemeindekassier mit „Büro“ im Wohnzimmer. Meine Mutter, eine gelernte Stenotypistin aus Magdeburg, kümmerte sich um den Papierkram wie die Viehzählungen, das Melderegister oder die Verteilung der Lebensmittelmarken, denn der Bauer und Bürgermeister hatte es eher mit seinen Äckern und Feldern, seinen sechs Kühen und ebenso vielen Schweinen. Meine Mutter formulierte die Briefe und Eingaben an den Kreis Ebermannstadt, worüber der Bürgermeister sehr froh war.

Wie erlebten Sie Ihr erstes Weihnachten in der Fremde?

Ulrich Pohl: Ein selbst geschlagener Tannenbaum, halb abgebrannte, geschenkte Wachslichter. Fünf oder sechs. Sie reichten, um Weihnachtsstimmung zu erhalten. Da stand er nun auf dem kleinen Tisch in der Ecke. Der Baum beleuchtete das Zimmer, vielleicht zehn, 15 Quadratmeter groß, zwei Betten, kein Schrank, ein Tisch in der Ecke, zwei Stühle. Einen Christbaumständer gab es nicht. Doch die Fantasie kennt keine Grenzen. Erfindungsreichtum war gefragt. Der Baum stand in einer großen Corned-Beef-Blechdose, die mit Erde gefüllt wurde.

Die Familie Pohl blieb bis September 1949 in Lützelsdorf. Und danach?

Ulrich Pohl: Zogen wir um nach Bamberg, weil mein Vater, inzwischen war er 47 Jahre alt, dort eine Dienstwohnung erhalten hatte. In der Gartenstadt bezogen wir ein Siedlungshäuschen. Der Kontakt zu Lützelsdorf ist aber nie abgebrochen. Einmal im Jahr frische ich die Erinnerungen auf.

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