Ossis fehlt die Übung

17.11.2010, 18:50 Uhr
Ossis fehlt die Übung

© Ralf Rödel

Äußerlich scheint alles vereint und gleich: Die Städte, die Behörden, die Schulen,

die Einkaufsmärkte, doch innerlich trennt ein Gedankengraben die Ossis von den Wessis. Joachim Gauck kennt die Vorurteile der Wessis. Steckt nicht in jedem Ossi auch ein Stück Feigheit? Sonst hätten sie doch nicht über 50 Jahre Diktatur ertragen, oder? Statt dagegen anzupredigen, setzt der evangelische Theologe auf die Kraft des Gefühls: Nur wer nachfühlen kann, versteht, ist die Methode Gaucks, der auf Einladung der Sparkasse Forchheim die Wessis im Saal auf eine Reise in die DDR mitnahm.

Die Frauen sind Marie, die Männer Paul. Marie kommt in die erste Klasse, da wird man Jung-Pionier. Maries Mama ist dagegen, sie ist in der Kirche engagiert. Doch Marie will keine Außenseiterin werden, will ein Pioniertuch tragen, Tränen kullern. Die Mutter gibt nach.

Politik totschweigen

Später werden die Eltern beschließen, in Maries Gegenwart nicht mehr über Politik zu reden, nachdem Marie einen Honecker-Witz in der Schule erzählt hat. „Wie hätten Sie entschieden?“ fragt Joachim Gauck jedes Mal in die Runde. Auch bei Pauls Lebenslauf. Er will Medizin studieren. Der dreijährige Wehrdienst ist die Eintrittskarte fürs Studium. Also unterschreibt er. Als Assistenzarzt trennt ihn vom Aufstieg zum Professor nur die Frage des Chefs: „Sind sie schon in unserer Partei?“

Die Maries und Pauls im Saal merken, es sind die kleinen Entscheidungen des Alltags, die den Menschen Schritt für Schritt zum Teil des Systems machen. Man arrangiert sich, um möglichst normal leben zu können. Wer gegen den Strom schwimmt, bekommt das zu spüren.

Joachim Gauck und seine Familie haben diese Erfahrung machen müssen. Gauck erzählt von seinem Bruder, der trotz Ingenieurs-Patent nicht befördert wurde, weil er kein SED-Mitglied war. Joachim Gauck selbst war einer der Führungspersonen zur Zeit der friedlichen Revolution. Nach der Wende leitete er bis 2000 die Bundesbehörde, die den Stasi-Nachlass verwaltet. Seitdem ist er als Publizist aktiv und hält Vorträge in ganz Deutschland.

Frei redend, mit einem Witz an der richtigen Stelle und ohne erhobenen Zeigefinger, schafft er es, den Wessis klar zu machen, woher die Mentalitätsunterschiede rühren: „Den Ossis fehlen 58 Jahre Demokratie-Praxis.“ Sie brauchten noch Zeit, um zu lernen, ihre Freiheit zu nutzen, sich in Gewerkschaften, in Vereinen zu engagieren.

„Geht zur Wahl!“

Zum Schluss geht er noch mit allen Deutschen eindringlich ins Gericht: Frei und glücklich kann ein Bürger nur sein wenn er seine Rechte und Pflichten wahrnimmt und Verantwortung zeigt. Nicht zur Wahl zu gehen, ist inakzeptabel. „Ich habe zu lange auf dieses Recht gewartet.“ Das saß.

Nach eineinviertel Stunden war das unterhaltsame und eindrückliche Plädoyer für mehr Verständnis zwischen Ost und West beendet. Statt einer Diskussion, die sich mancher gewünscht hätte, bat Joachim Gauck verkaufstüchtig zur Signierstunde seines neuen Buches „Winter im Sommer – Frühling im Herbst.“

Im Goldenen Buch der Stadt bleibt der Besuch Joachim Gaucks übrigens unerwähnt. Seine Unterschrift war zwar geplant, doch das Buch nicht an Ort und Stelle. Pressesprecher Andreas Ramisch, selbst Zuhörer, wusste auch nichts über seinen Verbleib, fand es aber nicht weiter tragisch. Oberbürgermeister Franz Stumpf war zwar angemeldet, aber nicht zum Vortrag erschienen.

Bilderschau vom Auftritt unter www.nn-forchheim.de