Vor Frust warf Reinhard Tischer den Christbaum über Bord

25.12.2017, 08:00 Uhr
Vor Frust warf Reinhard Tischer den Christbaum über Bord

© Repro: Huber

Weihnachten 1962: Wir verholten nach Emden und luden Stückgut. Emden liegt an der Ems, Ostfriesland. Heiligabend am Vormittag bekam ich den Auftrag vom ersten Steuermann, einen Tannenbaum zu besorgen. Es war ein miserables Wetter: windig, nasskalt und Schneeregen.

Die junge Verkäuferin am Christbaumstand war ein wunderschönes Mädchen. Ein gemischtes Gefühl aus Traurigkeit, Wehmut und Heimweh kam in mir hoch. Was hätte ich nicht alles gegeben, zusammen mit dem schönen Mädchen Weihnachten zu verbringen. Glaubte ich mich in das hübsche Fräulein verliebt zu haben? Ich wünschte frohe und schöne Weihnachten und sie mir eine gute Reise. Nach ein paar Schritten drehte ich mich um und winkte zum Abschied.

Mit meinem Baum unter dem Arm und einem flauen Gefühl in der Magengegend lief ich miesgelaunt an Bord. Alle hatten wir gehofft, die Feiertage im Hafen zu verbringen. Doch von der Reederei kam der gnadenlose Befehl: "Leinen Los!" Am Nachmittag des Heiligen Abends liefen wir noch aus. In der Deutschen Bucht kurz nach Borkum fing der Jammer an.

"In ein Atlantiktief"

Ein wachhabender Matrose kam von der Brücke: "Alles fest machen, wir kommen in ein Nordatlantiktief." "Na", dachte ich, "das wird ja ein schönes Weihnachten!" Wir hatten schwer geladen. Da hielt sich die Schaukelei noch in Grenzen. Doch ich hatte mich zu früh gefreut!

Unsere Reise ging nach Nordamerika. Boston war erster Zielhafen. Mein Messejunge und ich schmückten den Christbaum. Wir zurrten ihn auf einem Tisch im Salon fest. Eine Handvoll Lametta war der ganze Schmuck. Kugeln hatten wir keine und Kerzen durften wegen Brandgefahr nicht angebracht werden. In dieser Weihnachtsnacht fuhren wir direkt ins Sturmtief, Orkanstärke elf bis zwölf.

Die Maschinen mussten Schwerstarbeit leisten. Wenn sich das Schiff mit dem Bug voran in den Wellenberg wühlte, stoben gewaltige Brecher übers Vorschiff. Die schäumende Gischt flog bis hoch über die Brücke. Bei haushohen Wellen knallte er förmlich und wir wurden zurückgeworfen. Was nicht niet- und nagelfest war, rutschte in Gängen und Kabinen hin und her. An allen Ecken und Enden schepperte es. Beinarbeit war gefragt.

Vor Frust warf Reinhard Tischer den Christbaum über Bord

© Foto: Roland Huber

Mit der Zeit ermüdete man durch das ewige Dagegenstemmen. Essen und Trinken war nur im Stehen möglich. Auch das Kombüsenpersonal hatte seine liebe Not, die Töpfe und Kannen auf dem Ofen in der Waagrechten zu halten. Sie wurden mittels Eisenstangen eingezwängt. So mancher Küchenhelfer hatte sich dabei Verbrühungen zugezogen.

Mein Opel gab sich alle Mühe, ein festliches Menü zuzubereiten, doch bei diesem Orkan war das fast unmöglich. Er brachte es am ersten Weihnachtsfeiertag jedoch fertig, einen Gänsebraten mit Rotkohl und Kartoffeln auf die Teller zu zaubern! Das Unterdeck war ständig überflutet. Es war ein trauriges Weihnachten auf See, Festtagsstimmung kam nicht auf. Die Wache auf der Brücke wurde um vier Mann verstärkt.

Am zweiten Feiertag wurde es für uns alle geradezu bedrohlich. Der Telegraf klingelte im Maschinenraum, das bedeutete nichts Gutes. Sofort hörten die Maschinen auf zu laufen. Eine unheimlich Ruhe breitete sich aus. Es war ungewohnt, das Stampfen der Maschinen plötzlich nicht mehr zu hören. Das Kommando lautete: "Alle Maschinen stopp." Wir kamen gegen die Wellen nicht mehr an. Um ein Zerbrechen des Schiffes zu vermeiden, mussten wir uns treiben lassen.

Ein Mann von der Mannschaft zog auf den Hauptmast eine große runde Scheibe hoch. Das bedeutete in der Seefahrt "manövrierunfähig", um Schiffen, die in der Nähe kreuzten, anzuzeigen, dass wir nicht ausweichen konnten.

Die Situation wurde lebensbedrohlich. Wie von Geisterhand wurden wir nach oben gehoben. Dunkelgrüne Wasserberge kamen in regelmäßigen Abständen auf uns zugerollt. Die meterhohen glitzernden Schaumkronen stoben in allen Himmelsrichtungen über das kochende Meer. Ich dachte mir, die Wellen haben keinen Platz auf der See. Die schoben sich gegenseitig weg. "Hau ab, das ist mein Platz, der gehört mir!" So ging es ununterbrochen weiter.

Krachend stürzten Tonnen von Wasser ins Wellental. Wir tauchten, ja wir fielen geradezu ins Bodenlose. Links und rechts waren nur die fast schwarzen Wasserwände, als befände man sich in einer tiefen Schlucht. Wo auch immer man war, man musste sich mit einer Hand festhalten. Nur nicht über Bord gehen, das wäre das Ende!

Unser Christbaum machte sich in dem Chaos selbstständig und rollte im Salon von einer Ecke in die andre. Vor lauter Frust warf ich ihn kurzerhand über Bord. Sollten doch die Fische auf dem Meeresboden Weihnachten feiern! Der Lautsprecher krächzte: "Achtung, Achtung, eine wichtige Durchsage. Bitte keine Panik, alle Mann unter Deck. Sich im Außenbereich aufzuhalten ist lebensgefährlich. Bitte Ruhe bewahren. Jeder weiß, was er im Notfall zu tun hat! Die weiteren Durchsagen beachten!"

Na prima, so weit sind wir schon, schöne Aussichten. In gleichmäßigen Abständen wurden wir hoch- und hinuntergeschleudert. Oft fühlte ich mich schwerelos, wenn das Schiff absackte. Mein Freund, der Bäcker, kam hoch: "Heilige Maria, Mutter Gottes! Ich sehe meine Mama nie mehr!"

In dem Augenblick erwischte uns eine riesige Monsterwelle vorne am Bug und schleuderte das Schiff mit einem gewaltigen Ruck nach hinten. "Wir gehen alle gleich unter und ersaufen", heulte er jämmerlich.

Ein Schluck Rum

Wie ein Vater versuchte ich, ihm die Angst zu nehmen. "Reiß dich zusammen und sei ein Mann. Wir müssen alle durchhalten, so oder so!" Mein Junge meinte, der Bäcker könnte einen Schluck Rum vertragen. Die Idee fand ich gut und befahl ihm, eine Buddel zu holen. Nach einem kräftigen Schluck beruhigte sich mein Schatten vorübergehend!

Im Notfall, sagte ich zu ihm, haben wir ja noch unsere Rettungsboote. Doch wenn es zum Äußersten gekommen wäre, hätten sie uns nicht lange das Leben retten können. Bei so einem Orkan mit diesen ungewöhnlich hohen Wellen wäre es nicht möglich gewesen, unsere Rettungsboote zu Wasser zu lassen. Sie wären an der Bordwand zerschellt.

Unser Schiff war an die Grenzen seiner Belastbarkeit gestoßen. Angst, nein, Angst hatte ich nie, im Gegenteil! Ich sah mir das gewaltige Naturschauspiel vom Salon aus an. Ich hatte das ungute Gefühl, dass selbst unsere Führung sich in dieser brenzligen Situation in ihrer Haut nicht wohlfühlte. Das warme Abendessen fiel aus. Als Ersatz gab es belegte Brote mit heißem Punsch.

Ein Riesenbrecher knallte gegen die obere Reling, so dass der Bäcker und ich gegen die Schotten geschleudert wurden. Die Stahlverschanzung wurde auf gut vier Meter Länge eingedrückt.

Um Mitternacht des zweiten Feiertages ließ der Orkan langsam nach. Das langersehnte Klingeln im Maschinenraum gab uns die Gewissheit: Es geht weiter. Mit halber Kraft nahmen wir wieder Fahrt auf. Das schwere Tief hatte sich nach Süden abgesetzt, doch die nachfolgende Dünung war nicht gefährlich hoch.

In diesen Tagen und Nächten ging es nicht hinauf und hinunter, nur noch herüber und hinüber; wir rollten. Und so ging es weiter bis Boston.

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