80 Jahre nach Nazi-Terror: Nachfahren besuchen Ehrenhain

24.10.2018, 06:00 Uhr
80 Jahre nach Nazi-Terror: Nachfahren besuchen Ehrenhain

© Foto: Wraneschitz

Es war der Schlussstrich unter 500 Jahre meist freundschaftlichen Zusammenlebens zwischen Christen und Juden: die verbrecherische Vertreibung der eigenen Nachbarn am 20. Oktober 1938. Ein jüdisches Ehepaar entkam nach Nürnberg. Doch das interessierte in Wilhermsdorf genausowenig wie die Fluchtziele der anderen neun bisherigen Mitbürger.

Am Abend zuvor hatten maskierte Jung-Nazis die Wohnungen der letzten verbliebenen Juden genauso verwüstet wie die Synagoge. Wilhermsdorfs "vorgezogene Reichskristallnacht", nannten das örtliche Nationalsozialisten im damals üblichen Jargon stolz. Wenige Tage später verkündete der Bürgermeister der Bezirksregierung freudig, der Ort sei "judenfrei".

Genau 80 Jahre nach jenem Exodus konnte Wilhermsdorfs heutiger Rathauschef Uwe Emmert wieder 19 Menschen jüdischen Glaubens im Zenngrundort begrüßen. Die Nachkommen früherer Mitbewohner waren "ganz bewusst" aus Chicago, San Diego, Tel Aviv oder Bielefeld nach Franken gekommen. Gemeinsam mit der Bevölkerung wollten sie ihrer Vorfahren gedenken. Und das, obwohl viele ihrer Ahnen den Nazi-Terror nicht überlebten.

48 Namen verlesen

Die Namen von 48 Nazi-Opfern stehen nun auf einem Gedenkstein im Ehrenhain neben der Spitalkirche. Schülerinnen und Schüler der 4. Grundschulklasse verlasen jeden einzelnen Namen vor den etwa 250 Gästen der Gedenkstunde: jeder Name ein eindrücklicher Moment.

Noch eindrücklicher war die Rede der Generalsekretärin der "Union progressiver Juden in Deutschland", Irith Michelsohn. Ihrem Großvater, Justin Michelsohn, gelang 1935 mit seiner Familie die Flucht nach Palästina. Mit dabei war auch Robert, der Vater von Irith.

Sie zitierte aus Briefwechseln des Jahres 1938 zwischen Entkommenen und jenen Verwandten, denen die Flucht nicht gelungen war. Einige der Namen stehen auf den Tafeln: Sie wurden später umgebracht – in Auschwitz, Bergen-Belsen, Izbica, Gurs, Theresienstadt, Treblinka…

Dabei hatten diese Menschen nichts weiter gewollt, als "in Frieden zu leben", steht in einem der Briefe. "Wir können die Vergangenheit nicht verändern. Aber wir können daraus Lehren ziehen", hob Irith Michelsohn hervor. Deshalb trat sie für das friedliche Zusammenleben aller Menschen ein, "mit Respekt und Würde, egal welcher ethnischer Herkunft, Religion und welchen Lebensstils".

Nach Irith Michelsohns Worten dürfen weder die Toten vergessen werden, noch die Zeugnisse der jüdischen Vergangenheit. Davon gibt es in Wilhermsdorf jede Menge. So erinnern weit über 300 Grabsteine auf dem Judenfriedhof an die Zeit, als teilweise jeder fünfte Bewohner jüdischen Glaubens war. Manche Gäste konnten erstmals in ihrem Leben die Gräber ihrer Vorfahren persönlich besuchen.

Robert Hollenbacher, der Wilhermsdorfer Chronist jüdischen Lebens, lebt in der Marktgemeinde. Seit über zehn Jahren wendet er viel Zeit dafür auf, die jüdische Geschichte des Ortes zu erforschen und aufzuzeichnen. Nun half er den Besuchern aber nicht nur beim Auffinden der Gräber: Er geleitete die Gäste auch durch den Ort und zeigte ihnen die teilweise noch erhaltenen Wohnhäuser ihrer Vorfahren, zumindest aber die Stellen, wo sie einst gestanden hatten.

Die Meinhardts sahen das frühere Wohnhaus ihrer Familie in der Bahnhofstraße 7. Gad Loebstein gedachte seiner Mutter, Mädchenname Uhlfelder, die in Wilhermsdorf geboren wurde. Michael Michelsohn, dessen Vater Willi 1922 in Wilhermsdorf zur Welt kam. 2006 wurde er nahe Tel Aviv begraben. Die Vorfahren hatten 1881 die Pinselfabrik Michelsohn und Kainer mit gegründet. Sie trug zur wirtschaftlichen Blüte des Ortes bei und hatte bis zu 100 Mitarbeiter. Noch heute existiert die Fabrik, wenn auch unter anderem Namen.

Warnung vor Rechtspopulisten

Der Besuch der 19 Nachfahren jüdischer Wilhermsdorfer Bürger wurde jedenfalls von allen Seiten positiv aufgenommen. Doch Irith Michelsohn warnte auch vor der AfD und anderen Rechtspopulisten. "Die schüren Feindbilder und Vorurteile und gefährden damit den Zusammenhalt unserer Gesellschaft", zitierte sie den Präsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland (ZJD), Josef Schuster.

Irith Michelsohn hofft deshalb, "dass Sorge und Schmerz die Wiederkehr des Schreckens und des Terrors nicht zulassen werden. Wir glauben, dass es unter Menschen immer mehr Gemeinsames als Trennendes geben wird."

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