Anwandlungen der Männlichkeit

25.10.2011, 10:00 Uhr
Anwandlungen der Männlichkeit

© De Geare

Sie waren zu dritt. Der kleine Toni, Marshmallow-Bert und Joachim Marlon Brandy. Letzterer war von seinem Vater nach den drei Dingen getauft worden, die seine Mutter am meisten liebte, und er litt sehr unter der Bürde, in den langen Namen hineinzuwachsen. Die Kombination von Joachim Marlon Brandy mit dem Nachnamen „Hinterberger“ (das Einzige, was er mit seinem Vater Kurt gemeinsam hatte) erwies sich dabei als nicht besonders hilfreich.

Marshmallow-Bert hatte sich seinen Spitznamen selbst gegeben; es hing gar nicht so sehr mit seiner Vorliebe für Süßkram zusammen, er hatte ein paar Mal zu oft Gangsterfilme gesehen, als seine Eltern aus waren, und er fand, dass der Name seine Person mit der Aura der Verwegenheit umgab.

Der kleine Toni war von normaler Größe, wurde aber so genannt, damit man ihn in der Schule von dem „großen Toni“, einem alle überragenden Basketballspieler aus den höheren Klassen, unterscheiden konnte. Die Variante wäre gewesen, sich „Anton“ rufen zu lassen, und das schied aus.

Die Sachlage, über die die drei sich berieten, war überaus ernst. Es ging um den Prozess der erstmaligen Mannwerdung — oder weniger um den Prozess an sich als darum, wie man ihn in Gang bringen konnte.

Jeder der Herren hatte bereits ein bestimmtes Rezept dazu ausprobiert. Joachim Marlon Brandy beispielsweise trainierte seine Männlichkeit mit einer dreimal täglichen Ganzkörpernassrasur, denn er hatte gehört, dass die Haare so schneller und kräftiger sprießen würden.

Der kleine Toni betrieb eine Bier-Kur, freundlich und tatkräftig unterstützt durch seinen Vater, der die „Das Bier macht den Mann“-Theorie überhaupt erst aufgebracht hatte. Einstweilen machte das Bier Kopfschmerzen und auch ein wenig Durchfall, aber Toni sah ein, dass es dauerte, bis solche Dinge anschlagen.

Marshmallow-Bert hatte als Einziger noch kein besonderes Mittel zur Männlichkeit; er war ein recht wohlbehütetes Kind mit einer klavierspielenden Schwester; seine Mutter räumte gelegentlich sein Zimmer auf und die Attribute seiner Verwegenheit – eine sehr tief sitzende Hose und eine Kaugummizigarette, die lässig aus seiner Hemdtasche hervorsah – konnte er erst zur Schau stellen, wenn er morgens um die Ecke war.

Es war eben Bert, der die Idee hatte – vielleicht fühlte er sich seinen Freunden gegenüber wegen der Männlichkeitssache im Hintertreffen. Die Idee baute auf der alten Weisheit auf, dass man Fahrradfahren nur lernt, wenn man fährt, und mit dem Schwimmen ist es ebenso. Der Vorschlag war gemacht worden, und jetzt herrschte in der Runde Stille. Es war eine angespannte Stille, vielleicht sogar eine ängstliche. Sowohl Toni als auch Joachim Marlon Brandy spürten, dass sie sich schnell dazu äußern mussten, sonst konnte Bert sie zwei Feiglinge nennen. „Sissy“, sagte Joachim Marlon Brandy und schluckte. „Toll!“

„Die Wette gilt!“, schob der kleine Toni nach, „Ich wollte den Vorschlag eigentlich auch schon machen, ich dachte nur, ihr seid noch zu unreif.“

Die daraufhin folgende Prügelei war klein und diente vor allem der allgemeinen Ablenkung vom Thema.

Sissy war eine Dame der Halbwelt, die in der Schillerstraße gleich neben dem städtischen Gymnasium wohnte. Dort kannte man zwar Sissy, aber nicht ihren zweifelhaften Beruf; ihr Wissen darüber hatten die drei Toni zu verdanken. Zwischen dem Gymnasium und Sissys Wohnung lag in der Straße noch ein Tante-Emma-Laden, und dort hatten Sissy und ein Verehrer einmal eingekauft, als Toni sich gerade Kaugummi aussuchte. Sissy hatte schwarz gefärbtes, strähniges Haar und war wirklich ausgesprochen dick. Ihr Begleiter, ein ärmlich wirkender älterer Herr italienischer Herkunft, war dagegen unglaublich dünn. Er kaufte Zigaretten für sich und eine Flasche Schnaps für die Frau, offensichtlich ein Teil der Abmachung, und darüber hinaus eine kleine Stange Ferrero-Küsschen, die er zärtlich zu Sissy hinschob: eine Liebesgabe. Sissy sagte nuschelnd: „Dange schön. Scher freundlich“, und man konnte sehen, dass ihr schon einige Zähne fehlten, obwohl sie gar nicht so alt war. Sobald sie den Laden verlassen hatten, empörte sich die Verkäuferin über das ungleiche Paar, und so erfuhr Toni, was man von Sissy zu halten hatte.

Die Abmachung der Jungen sah so aus, dass alle drei eine Audienz bei Sissy zu bestehen hatten – wer kniff, sollte seine Unfähigkeit vor der ganzen Klasse eingestehen, auch vor den Mädchen. Diese ursprüngliche Form konnte aber, wie sich herausstellte, nicht durchgeführt werden, da der Preis für das Unternehmen (den man bei Sissy vorsichtig angefragt hatte) die Spareinlagen der Jungen um ein Vielfaches überstieg. Toni, Bert und Joachim beschlossen daraufhin zögernd, das Problem wie im Klarinettenunterricht zu lösen und zu dritt eine halbe Stunde zu nehmen.

Am Dienstag war es so weit. Bert hatte die Nacht zuvor kein Auge zugetan und die liebevollen Angebote seiner Mutter, ihm eine Gutenachtgeschichte vorzulesen, mit derart unflätigen Flüchen bedacht, dass die Mutter zu überlegen begann, ob er vielleicht unter einer schweren Form der Schulangst litte und beschloss, zur Sicherheit einen Termin beim Schulpsychologen zu vereinbaren.

Joachim Marlon Brandys Eltern saßen vor dem Fernseher, und zwar jeder vor einem anderen, und sie bemerkten weder die Appetitlosigkeit ihres Sprösslings noch die erneute Ganzkörperrasur, mit der er sich auf den wichtigsten Tag seines Lebens vorzubereiten versuchte, und auch nicht, dass er sich am Morgen im Bad vor Aufregung übergeben hatte.

Allein der kleine Toni blieb einigermaßen gelassen – er hatte ebenfalls seiner bewährten Kur zugesprochen und war am Abend betrunken gewesen, dafür war ihm aber nun, als er die Treppe hinaufschnaufte, elendiglich schlecht.

Als sie Sissys Wohnung betraten, saß Sissy auf einem Stuhl am Esstisch. Sie erhob sich nicht, um ihre Kunden zu begrüßen, als sie durch die Tür drängten, denn sie war gerade dabei, sich einer großen Leidenschaft zu widmen, die Joachim Marlon Brandy von seiner Mutter bekannt war: einem Schnapsglas.

Die Jungen traten verlegen von einem Bein aufs andere, während Sissy mit der Zunge den letzten Tropfen aus dem Glas angelte. Offensichtlich erwartete sie, dass einer der drei Herren den Anfang machte, wie es einer Dame zukam. Im Raum war es still. Toni stieß Bert in die Rippen, damit er endlich zu reden begönne. Bert rempelte Toni zurück und trat Joachim auffordernd auf den Fuß – der war schließlich an Schwierigkeiten gewöhnt – doch Joachim hätte auf der Welt nichts gesagt, und wenn es um alle seine drei Vornamen gegangen wäre.

Langsam wurde die Sache schwierig; die Stille lauter, die Jungen verzagter. Endlich erhob sich Sissy, angestrengt seufzend, und ging zum Schrank. Sie kramte in der untersten Schublade, und allen drei Jungen wurde es angst und bange in der Erwartung, dass sie gleich etwas zum Vorschein bringen würde, das der Umsetzung ihrer Unternehmung dienlich sein mochte. Unwillkürlich rückten sie näher zusammen. Als Sissy sich wieder umdrehte, hielt sie ein Mensch Ärgere-Dich-Nicht-Spiel in der Hand.

Eine Stunde später, auf der Straße, fühlten sie sich alle männlicher, außer Sissy natürlich. Am männlichsten fühlte sich Bert, denn er hatte gewonnen. Toni fühlte sich größer, er wusste, er würde es mit diesem Basketballspieler aufnehmen können. Joachim Marlon Brandy beschloss, sich von jetzt an Jo nennen zu lassen.

 

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