Auf die Ahnen!

31.8.2011, 15:00 Uhr
Auf die Ahnen!

© Thomas Scherer

Nach Böhmen also, dem verlorenen Paradies. Meine Großmutter war dort aufgewachsen, in einem kleinen Dorf direkt an der Grenze, die zum Todesstreifen wurde, nach dem Krieg. Die Tschechen hatten die Häuser verbrannt oder abgerissen, das Wirtshaus, die Mühle, das alte Schloss. Wahrscheinlich wollten sie verhindern, dass die vertriebenen Bewohner zur Grenze pilgerten und hinüber starrten. Natürlich pilgerten sie trotzdem hin.

Meine Mutter hatte dort ihre Kindheit verbracht, in sicherer Entfernung vom Krieg. Seit der Eiserne Vorhang gefallen war, wünschte sie sich, mit uns dorthin zu fahren. Ich versprach mir nicht viel davon. Kann sein, dass meine Unlust ein wenig pubertär war, ein Überbleibsel aus den Jahren, in denen ich das Gerede von der verlorenen Heimat nicht mehr hören konnte.

Abgesehen davon war Böhmen für mich ein Märchenland, kein realer Ort. Riesengebirge und Rübezahl, Geschichten und vergilbte Fotos. Wenzel, der Urgroßvater, mit seinem Jagdgewehr und dem Hund an der Seite. Die Urgroßmutter in ihrem guten dunklen Kleid. Aber sie hatten das Dorf verlassen, und ich war nie dort gewesen. Was sollte mich mit diesem Ort verbinden? Und was sollte es dort zu sehen geben? Bestenfalls Grundmauern, so spannend wie Tonscherben in einem Museum. Dachte ich. In Wirklichkeit war es ganz anders.

An einem regnerischen Junimorgen machten wir uns auf die Reise, meine Mutter, meine Schwester und ich. An der Tankstelle kaufte die Schwester einen Flachmann, Jägermeister, ich erschrak, als ich es sah. So stand es also um sie. Aber ich verkniff mir jeden Kommentar, das war ihre Sache. Je näher wir unserem Ziel kamen, desto kleiner wurden die Straßen. Meine Mutter wusste genau, wo das Dorf gewesen war. Sie hatte auch in Erfahrung gebracht, dass man den Grenzbach bei niedrigem Wasserstand durchwaten konnte, und sogar einen Lageplan der früheren Häuser und Höfe aufgetrieben.

Der Grenzbach war eher ein kleiner Fluss, und die Gummistiefel meiner Schwester nicht ganz dicht. Aber das war noch lange nicht das Aufregendste an der Sache, die unvermutet zum Abenteuer wurde: Am anderen Ufer erwartete uns undurchdringliche Wildnis. Ein Urwald aus jungen Bäumen, Büschen und Gestrüpp. Unschlüssig sahen wir uns um.

Wo waren die Trampelpfade, von denen der Kontaktmann meiner Mutter gesprochen hatte? Offenbar mussten wir sie uns selbst bahnen, hoffentlich hatte es im Todesstreifen keine Minen gegeben. Nun waren wir schon mal da, also los. Von Grundmauern keine Spur. Kaum zu glauben, dass hier mal Menschen gelebt hatten, vor, nun ja, immerhin schon 66 Jahren, das gab der Natur Zeit, die sie weidlich genutzt hatte.

Wir waren nahe daran, aufzugeben, als ich einen umgestürzten Baum entdeckte, in dessen Wurzelwerk Steine steckten. Meine Mutter sah genauer hin und schrie auf: „Ziegelbrocken!“ Eine Art Entdecker-Hormon wallte in uns auf. Wir kletterten um den Baum herum, erstarrten, als ein lautes Rascheln ertönte. Sicher ein Reh, es musste ganz nah sein. Da brach es schon aus dem Gebüsch, verdammt nah, kein Reh, ein graues, massiges Tier, und sprang den Hang hinab — ein Wildschwein!

„Wir kehren besser um“, sagte ich, es klang hoch und angespannt. Aber keine von uns rührte sich, das Entdecker-Hormon brauste durch unsere Adern und spülte alle Bedenken beiseite.

„Das war ein Einzelgänger“, meinte meine Schwester. Wir stimmten zu und kämpften uns weiter bergan, durch mannshohe Brennnesseln und Gestrüpp, und standen plötzlich vor einer bemoosten Mauer. „Die Mauer zum Garten“, rief meine Mutter, und da wuchsen auch Holunder und ein verwilderter Stachelbeerstrauch. Wir lachten, umarmten uns, und alles war auf einmal unerwartet nah. Die Generationen vor uns, der Urgroßvater, die alten Geschichten. Meine Schwester packte den Jägermeister aus und goss einen kräftigen Schluck auf die Erde: „Für die Ahnen.“ Sie lachte, als sie meinen Blick auffing: „Ich hab schon gesehen, wie du geschaut hast.“ Dann reichte sie die Flasche herum, und wir tranken, das konnten wir vertragen, es passte zur Begegnung mit dem wilden Schwein, zu diesem Tag.

Ich erinnerte mich daran, dass ich die Ahnen besucht hatte, auf einer Traumreise in der Nacht vor Allerheiligen, wenn die Grenzen von Zeit und Raum durchlässig sind. Ich hatte gefragt, ob sie mir etwas zu sagen hatten. Das hatten sie tatsächlich. „Das Glück liegt draußen“, hatten sie gesagt, „das Wichtigste ist ein singender Vogel.“ Und noch etwas: „Haltung bewahren!“ Vom Schnaps hatten sie nichts gesagt, von der Lust daran, sich gehen zu lassen, in der Freude, im Leid. Hätten sie das gebilligt? Auf den Bildern schauten sie immer so streng und unverwandt. Womöglich war das etwas, was wir ihnen nahebringen konnten. Wenn es das gab, einen Austausch über die Grenzen hinweg, die geographischen — und vielleicht sogar die Grenzen der Zeit.

 

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