Aufrechter Mahner in dunkler Zeit

28.6.2017, 18:00 Uhr
Aufrechter Mahner in dunkler Zeit

© Foto: Kohler

Schon früh empfand sich Erich Mühsam als Außenseiter, denn er war schlauer als sie alle. Schlauer als die Lehrer, schlauer als sein Vater, der den Bücherschrank mit den großen Denkern sorgfältig verschloss und seinen Filius verprügelte, als er ihn beim heimlichen Lesen ertappte.

Das muss wohl eine Urszene gewesen sein: Der Mächtige ist so borniert, dass er zu blöd ist, das Wissen zu nutzen. Und Wissensentzug ist die Macht, mit der sich das Herrschaftssystem erhält. Nicht nur das Elternhaus, sondern auch das wilhelminische Kaiserreich, das sich auf sein Gottesgnadentum beruft.

"Mit Ekel fahre ich meinen Lebenskarren" notierte Mühsam einmal in sein Tagebuch. 7000 Seiten umfassen seine privaten Aufzeichnungen, aus denen Brigitte Döring für ihre gleichnamige szenische Collage schöpft - zumindest so weit diese Tagebücher zugänglich sind. Denn die späteren Aufzeichnungen schlummern in den Katakomben des KGB. Mühsams Witwe hatte sie nach Russland gebracht, und der Geheimdienst interessierte sich offenbar brennend für Mühsams Aktivitäten und Bundesgenossen.

Während Magnus Gertkemper trocken-sachlich die Lebensstationen und wechselnden Zeitläufte verkündet und Hannes Hierdeis aus den Tagebüchern zitiert, verkündet Brigitte Döring Sentenzen aus Mühsams Gedichten, Dramen und Essays, musikalisch unterlegt mit den Gassenhauern jener Zeit, mit Volks- und Kampfliedern, der "Internationalen" und Couplets der Comedian Harmonists.

Opposition bleibt

Die Regierungen wechseln, die Opposition bleibt. Der monarchische Popanz weicht im Weltkrieg der Quasi-Militärdiktatur unter Hindenburg und Ludendorff, diese der kurzlebigen bayerischen Räterepublik, diese der Weimarer Republik, und am Ende zieht das Dritte Reich herauf. Wie aber sieht die Alternative aus? Mühsam vertritt die Anarchie, die Idee der Herrschaft als "Freiheit von Zwang und Gewalt".

Wie man sich diese konkret vorstelle sollte? Eine interessante Frage, denn Mühsam bekam ja nicht einmal sein Privatleben in den Griff. Sein Überlebensmotto lautete "Sei deines Nächsten Gast", sein Liebesleben bilanzierte er mit "Jede hat mich gern – aber keine liebt mich". Dennoch war er in den Berliner und Schwabinger Bohemeszenen eine feste Größe, war Stammgast beim Simpizissimus; spät gewann er auch die große feste Liebe.

Das Wort war seine Waffe, wobei er sich ungeniert auf den Größten der deutschen Literatur berief: "Wer dichten will, der tut es gut, wenn er's so macht, wie's Goethe tut". Er plädierte für die Beibehaltung von Fremdwörtern, als im Zuge der Ersten Weltkriegs das "Hotel" sich zum "Gasthaus" wandelte, und der "Juwelier" gar zum "Geschmeider".

Einsam auf weiter Flur klagte Mühsam den Massenmord der mit dem Kaiserreich verbündeten Türken an den Armeniern an, dichtete bittere Kriegslieder, die das Verrecken im Dreck beschreiben, und setzte sich nach der Revolution für die bayerische Räterepublik ein. Das brachte ihm fünf Jahre Festungshaft ein.

Früh schon warnte Mühsam vor den Nazis, die ihn zu ihrem Lieblingsfeind erkoren, doch die Flucht trat er zu spät an. Gleich nach dem Reichstagsbrand vom 28. Februar 1933 verbrachte man den Anarchisten in mehrere KZs, wo Mühsam schwersten Misshandlungen ausgesetzt war. Am 10. Juli 1934 fand man seine Leiche erhängt auf der Latrine. Der Mord war als Selbstmord getarnt. Denn wie knüpft man einen Knoten, wenn beide Daumen gebrochen sind?

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