Beckers blubbernder Balladenbrunnen

23.11.2014, 11:00 Uhr
Beckers blubbernder Balladenbrunnen

© Archivfoto: Wendt/dpa

Balladen, das sind und bleiben die unterhaltsamsten, saftigsten, lustigsten Erlebnisse im Deutschunterricht. Was sie kennzeichnet? Unerhörte Vorgänge: Ein Blitz schlägt ins Haus ein und tötet vier Generationen auf einmal (Schwab, „Das Gewitter“). Ungeahnte Reaktionen: Ein Kavalier erweist sich als tapferer Held, die Huld seiner Liebsten ist ihm gewiss - und er klatscht ihr den Handschuh ins Gesicht (Schiller, „Der Handschuh“).

Solch unerhörte Sachen müssen dramatisch und mit schwellendem Pathos vorgetragen werden. Müssen sie das? Nein, es geht auch leise und sachte, sogenanntes Underplay verschafft gerade gruseligen Balladen erhöhten Gänsehautfaktor. Und dann gibt es natürlich die musikalische Untermalung, die Rezitation zu Klaviermusik, das Melodram, für das zu komponieren sogar ein Franz Liszt sich nicht zu schade war.

Auch Ben Becker und sein Kompagnon am Klavier, Yoyo Röhm, haben sich fürs Melodram entschieden. Eine Instrumentalversion von „A Salty Dog“ von Procol Harum signalisiert: Herrschaften, es wird tragisch! Und da kommt er auch schon geritten, der Vater mit seinem Kind, direkt in die Arme des Erlkönigs. Doch was ist das denn? Ben Becker rezitiert wie in Zeitlupe mit schwer lastender Stimme und einem Timbre, das selbst den „Asbach Uralt“-Reklamesprecher zum Nachsitzen in den Weinkeller verweist. Dann die Stimme des Knaben: in höherer Tonlage, aber genauso aufgeraut wie Schmirgelpapier. Und der Erlkönig: wie ein besoffener Nikolaus! Je länger die Sache dauert, umso komischer wird es.

Ist das unfreiwillige Komik oder gewollte? Ist Ben Becker restlos bedient, kann er nicht anders? Oh doch, er kann, er will es bloß nicht. Becker bedient das krachlederne Pathos des 19. Jahrhunderts, als Gymnasiallehrer und gescheiterte Schauspieler mit Wucht in der Stimme die Balladen von der Bühne blökten. Schuld daran seien die Weihnachtsabende in Beckers Elternhaus, wenn nach Gänsebraten und Rotkraut Stiefvater Otto Sander den „Ewigen Brunnen“ hervorzog und eimerweise Gedichte und Balladen schöpfte. „Der ewige Brunnen“, von Ludwig Reiners 1953 erstmals aufgelegt, ist wohl die Standardsammlung deutschen Dichtgutes schlechthin. Und ja, Gedichte und Balladen entfalten oft erst dann ihre wahre Blüte, wenn sich jegliche Nüchternheit verflüchtigt hat.

Henkers Hackebeil

Und Ben Becker kann wirklich toll vortragen. Wenn Hebbels „Heideknabe“ von seiner eigenen Ermordung träumt und dem Mörder in die Arme läuft, der denselben Traum gehabt hat, dann wippt man vor Spannung auf der vordersten Stuhlkante. Wenn Heines „Ritter Olaf“ seinen Hochzeitstag auskostet, bevor der Henker mit dem Hackebeil die Tafel aufhebt, dann empfindet man die komprimierte Lebenslust angesichts des Todes hautnah mit. Und wenn Geibels „Schatzgräber“ sich gegenseitig austricksen, schimmert unterm schwarzen Humor ätzende Kapitalismuskritik durch. Goethes „Zauberlehrling“ rezitiert er mit spitzem Hut und gurgelnder Stimme und verweist immer wieder auf Disneys Zeichentrickversion der Ballade. Schillers „Lied von der Glocke“ bringt er nur auszugsweise und amüsiert sich gar köstlich über Schillers Ideal von der züchtig waltenden Hausfrau.

Doch wo bleibt der Ernst? Ist die Ballade erledigt, ein Gespött für Bildungsbürger? Nein. Wenn Becker den „John Maynard“ von Theodor Fontane rezitiert und Yoyo Röhm ganz sachte seine musikalische Begleitung dazusetzt, dann herrscht andächtige Stille im Saal. Die Geschichte vom Steuermann, der sein Leben für die Passagiere gab, die pumpt einem halt doch immer wieder das Wasser aus den Augen. Diese schöne Nachricht auch: Der Benefizabend erbrachte 8000 Euro für die hiesige Klinik-Seelsorge.

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