Begegnung mit der guten Ameise

31.5.2011, 00:00 Uhr
Begegnung mit der guten Ameise

© Winckler

Ameisen sind nützliche Tiere. Sie leben zu Zehntausenden in ihren Bauten, arbeiten perfekt zusammen, lockern den Boden auf und entfernen Aas von den Wegen. Eine Ameise kann das 100-Fache ihres eigenen Körpergewichts auf dem Rücken tragen — gäbe es keine Ameisen, würden wir nicht in der Welt leben, die wir kennen. Ameisen gibt es überall. Zum Beispiel in der Küche von Mutter.

Die erste Ameise begegnete mir, als ich den Küchenschrank öffnete; sie saß oben auf einer Kaffeetasse mit rotem Rand. Ameisen sind friedliebende Tiere. Wir sahen uns an, und danach ging ein jeder, dem anderen gebührenden Respekt zollend, seiner Wege. Ich machte den Küchenschrank wieder zu.

Doch zwei Stunden später brach die Hölle los: Mutter öffnete den Schrank. Sollte je die Möglichkeit einer friedlichen Koexistenz von Mensch und Ameise in unserem Haus bestanden haben, war sie damit beendet. Von nun an herrschte Krieg.

Im Verlauf der ersten Angriffswelle wurde noch mit Backpulver geschossen, wovon sich die anwesenden Ameisenbataillone völlig unbeeindruckt zeigten – abgesehen von einigen wenigen, die sich totgelacht hatten. Danach begann eine schonungslose Mutter–gegen-Ameise-Offensive. Ich betrachtete das Gefecht von Ferne mit einem gewissen Amüsement. Die Kräfte schienen mir ungleich verteilt, zumal auf jede getötete Ameise drei neue nachrückten.

Viel Zeit verschlang die Ursachenforschung. Zunächst stand, aus irgendeinem verrückten Grund, die Spülmaschine in Verdacht (wohl weil Mutter sich insgeheim längst eine neue wünschte). Danach wurden die Schränke zur Diskussion gestellt — dort war wohl irgendwo ein Nest. Alle Schubladen mussten sauber gemacht, gewischt und blank poliert werden; jegliche Essensreste wurden aus der Küche verbannt und der Mülleimer wanderte täglich viermal in Gartenkompost.

„Ich werde sie aushungern, völlig aushungern!“, erklärte Mutter die neue Strategie. Ich betrachtete inzwischen zärtlich eine kleine Ameise, die in einem Teelöffel auf dem Frühstückstablett eine kurze Pause eingelegt hatte, um sich die Fühler zu putzen. Hübsch, so ein Tierchen.

Der nächste Schritt war ganz natürlich: Dynamit. Und es wäre auch gnadenlos eingesetzt worden, hätte Mutter nur gewusst, wo. Während sie in der Küche alle Fenster abdichtete und den Luftspalt unter der Speisekammer mit Sandsäcken verschloss (wie nur sollten wir in den nächsten Tagen etwas zu essen bekommen?), entdeckte ich an einer Fußbodenleiste entlang des Schlafzimmers die Hauptverkehrsader.

Der Austausch von hin und zurück war rege und der weite Weg bis zur Küche schien niemanden abzuschrecken; man war dabei, einem drohenden Stau vorzubeugen. Ich wollte mich da nicht reinziehen lassen und ließ die Ameisen, wo sie waren; schließlich war ich in diesem Gefecht sozusagen die Schweiz.

In der nächsten Zeit hatte ich einige Gelegenheiten, ihr Verhalten zu studieren. Strategisch geordnet wurden aus unserer Speisekammer Waren abgeführt, wobei die genauen Transportwege von den Ameisen geheim gehalten wurden. Einmal sah ich eine mit einer ganzen grünen Weintraube auf dem Rücken durch den Flur marschieren; ein anderes Mal wanderte dort — fast wie von selbst — ein Stück Käse.

In dieser Woche wurde ich wiederholt von meiner Mutter zur Tötung von Bodentruppen aufgefordert, doch ich berief mich beharrlich auf meine Neutralität. Ich kann nicht einfach mit dem Daumen auf ein Tier drücken, bis es tot ist. Jedenfalls nicht, so lange ich nicht persönlich angegriffen werde, und mein Essen befand sich gesichert im oberen Stockwerk.

Von Gift wollte die Dame des Hauses nichts hören — zum einen war sie der Ansicht, dass unser Essen und das der Ameisen zu nahe beieinander lägen, zum anderen hielt sie sich mit ihren bisherigen Maßnahmen (aufgrund einer geschickten Verschleierungstaktik der Ameisen) für äußerst erfolgreich, was sie mir lang und breit in der Küche auseinandersetzte, während ich damit beschäftigt war, eine Ameise zu beobachten, die im Begriff war, auf dem seitlichen Gewürzbord eine Blattlauskolonie anzulegen. Die Ameisen schienen sich in unserem Haus wirklich wohlzufühlen.

Und wie ging die Sache aus? Letztendlich zogen wir um und überschrieben das Haus mit all seinen Bewohnern einem ahnungslosen Käufer, dessen äußere Erscheinung eine gewisse Tierliebe vermuten ließ. Inzwischen sieht man nicht mehr viel davon; es ist zu einem großen krabbeligen Haufen Erde geworden, den man nicht gerne aufstört.

Mutter drehte sich derweilen in einer nagelneuen, blendendweißen, hell blitzenden Küche im Kreis und konnte ihr Glück kaum fassen.

Im Obstkorb auf dem neuen Tisch saß zierlich eine Ameise, die sich zum Ausruhen auf einen großen roten Apfel gesetzt hatte. Sie winkte mir zu. Ich winkte zurück.

Ameisen sind wirklich nützliche Tiere.