Benetton oder die Flucht über die Adria

19.7.2011, 00:00 Uhr
Benetton oder die Flucht über die Adria

© hjw

An einem Samstag stieß ich bei meinem Spaziergängen unverhofft auf ein wuchtiges Plakat: „Das Boot ist voll!“ Jener italienische Dampfer nämlich, mit dem vor Jahren eine Massenflucht von Tausenden verzweifelten, hungrigen, den letzten Rettungsanker buchstäblich ergreifenden Albanern ihren Höhepunkt fand. Ich erinnere mich genau an jene irritierenden, aufwühlenden, ja unerträglichen Bilder: Ein Schiff, schwarz von Menschen, ein bösartig verzweifelt summendes Bienen-Menschenvolk, das Recht des Stärkeren praktizierend im Kampf um die wenigen freien Plätze, auch Hilfsbereitschaft war zu sehen, dort, wo es nur noch ein Recht gab, sich gegenseitig auf die Füße zu trampeln.

An Trossen hingen die Menschen mit Armen und Beinen, Armutsartisten, Verzweiflungsartisten, schwammen im Wasser, klammerten sich an Strickleitern fest. Eine Apokalypse. Eine Allegorie? Das Chaos.

Und Italien, jenes großzügige, menschliche, gastfreundliche Italien reagierte in Panik: Die Hafenanlagen wurden geschlossen, Eisengitter, Militär. Zwar gab es Garküchen, wurden Verletzte versorgt, aber eines war klar: Keiner sollte im Land bleiben dürfen. Abschiebung brutal und schnell. Ein Exempel. Wütende Gegenwehr. Das Bienenvolk stach. Gruppen überwanden die Zäune, wagten mit Gewalt den Ausbruch. Hetzjagden durch die engen Straßen der Altstadt, Menschenjagden, mitleidlos.



Mir als Fernsehzuschauer war es schlecht vor Ratlosigkeit. Die Gewalt: nackt. Die humanitären Wortfetzen: in Lumpen. Kindergestammel: Mama tot, Papa tot, Männer böse. Vereinzelt nur griffen Hände, zerrten in ein Treppenhaus, halfen weiter. Auch das ist Italien. Europa. Mensch. Die Flut. Die Wogen. Der Osten schwappt. Die Dämme brechen. Das Boot ist voll. Die reichen Länder eine Wagenburg. Europa mit Mauer und Stacheldraht. Wir dürfen raus. Niemand darf rein.

Und wenn jenes Schiff nur eine Vorhut wäre, eine Armada von überfüllten Seelenverkäufern drohte — wären dann nicht alle Häfen zu verminen und die Küsten? Badeverbot an allen Stränden, denn wer dann konnte noch nackte Reiche von nackten Armen unterscheiden. Armut stinkt. Aber nach Abwässern riechen alle. Unter dem Plakat stand: Benetton

Die Nackten kleiden? Die Zerlumpten mit modischem Strickzeug? Sind Benetton-Pullis auch für Albaner erschwinglich? Würbe dann als nächstes die Hofpfisterei mit einem KZ-Foto und dem Slogan „Seht, wir wären in der Lage, jede Jammergestalt zu sättigen, wenn sie zahlen kann“? Oder die Bank XY wiese auf ihre Kreditkarten hin in einem Hungerlager in Somalia: „Wir bürgen mit Ihrem guten Namen!“ Nein, Benetton will nichts. Benetton will Kunst sein. Ein Mäzen verändert die Sehgewohnheiten. Der Blick der Satten hat die Jungen, Schönen satt. Das Elend als Interpunktion. Full Stop. Punkt. Irritation. Die sanfte Verwirrung. Wie lange wirkt das Elend nach?

Nicht lange, aber als Kontrast wirkt es reizvoll. Aufreizend? Reizend? Nein, nichts! Bei der nächsten Party laden Sie einen Hungrigen ein. Lassen Sie ihn mitessen. Zuschauen. Egal. Es schmeckt besser. Das Elend als Stimulanz. Schlechtes Gewissen? Nein! Eher Freude am Überleben. Man gönnt sich ja sonst nichts. Auch wir haben schlechte Zeiten mitgemacht. Das „Tanz-auf-dem-Vulkan-Gefühl“. Nein, besser nicht! Elend stinkt. Ist unverschämt oft und anmaßend. Steht nicht verschämt abseits. Ein Ed-Kienholz-Tableau oder ein Bacon-Portrait tut's auch.

Aber Benetton, ja, Benetton ist gegenwärtig. Wer an Tod denkt, denkt an Benetton. Die Blutlache auf der Straße und die erstarrten Frauen. Schwarz-Weiß. Gut ausgeleuchtet. Memento mori. Zieh dich warm an. Benetton. United Colors.