Bleigießen

31.12.2013, 10:00 Uhr
Bleigießen

© Draminski

Es zischte, als er den heißen Löffel drehte und das flüssige Blei in den Wassertopf kippte. Mit spitzen Fingern fischte er das Ergebnis aus dem Wasser und hielt den kühlen Guss in die Runde — widerwillig. Oh Gott, wie er diese albernen Rituale hasste!

Nicht mal spielerisch mochte er sich auf die immer gleichen Weissagungen einlassen, die verlässlich an jedem Silvesterabend, den jener Gott werden ließ, um ihn herum schwirrten. Ritualisierte Kaffeesatzleserei, ohne Bezug zur Realität, egal ob da mit Wohlwollen irgendwelche Formen zu erkennen gewesen wären, oder der silberfarbene Klumpen genau das war: ein Klumpen. Auch heiter fand er dieses dümmliche Spiel nicht, weil meist doch immer auch ein wenig Ernsthaftigkeit damit verbunden war. Und die konnte er bei Humbug ums Verrecken nicht ertragen.

Die anderen sahen das anders. Wie aus der Pistole geschossen kamen normalerweise die Deutungsversuche — entweder mit bedeutungsschwangerem Unterton, dann ging es meist um die Voraussage in Liebesdingen, oder mit übertrieben ausgelassener Heiterkeit, dann ging es in der Regel auch darum, nur mit mehr Sex!

„Du wirst eine Flugreise machen“, wusste einer aus der Runde, „das ist ein Propeller!“ „Und die Stewardess“, ergänzte ein anderer, „stolpert mit dem Sekt direkt in deinen Schoß!“ „Das wird der Anfang einer prickelnden Leidenschaft“, grinste der Dritte ob seiner kalauerhaften Anspielung begeistert in die Runde.

Da die allerdings zu gleichen Teilen auch weiblich besetzt war, kamen die einfältig-direkten Männerträume nur äußerst bedingt an.

„Ach, Leute“, flötete Birgit gegenüber, „wer fliegt denn heute noch mit ’ner Propellermaschine? Das ist die heilige Dreifaltigkeit. Unser ungläubiger Thomas wird im neuen Jahr bekehrt werden und seine Susanne doch in Weiß heiraten!“

Zack! Dolchstoß — ohne Legende! Wunder Punkt getroffen, wie ihn nur eine Frau treffen kann.

„Das ist ein Kleeblatt“, sagte „seine“ Susanne neben ihm spitz. „Allerdings nur mit drei Blättern!“ Und noch eine Portion spitzer fügte sie hinzu: „Aber er glaubt ja sowieso nicht an so was. Da würde auch ein vierblättriges kein Glück bringen!“

„So“, dachte er, „jetzt haben wir dann also den Worst Case!“ Jetzt war auch noch die mit dem Quatsch verbundene Heiterkeit dahin. Er war schon genügend genervt gewesen vom ständigen Frotzeln seiner Fürther Freunde, ob er denn als Nürnberger mit einer Fürtherin überhaupt zurechtkommen würde. Er fand, dass man solche Art von hinterwäldlerischen Ressentiments, ob sie nun von der einen oder anderen Seite gepflegt wurden, den Fußballhooligans überlassen sollte. Die konnten wenigstens was damit anfangen. Aber Erwachsene? Na, dachte er dann aber auch, wenn die wiederum an so was wie Orakel glaubten, war es vielleicht doch das richtige Niveau. Also ging er in die Vollen:

„Das ist wirklich ein Kleeblatt“, stimmte er Susanne zu, während er das undefinierbare Etwas betont nachdenklich zwischen den Fingern drehte, „aber natürlich kein Glücksbringer. Wer würde schon in einer kleinen Kleeblattstadt wohnen wollen, wenn nebenan eine Metropole glänzt!“ Es wurde still in der Runde, wie er nun amüsiert feststellte. Gleichzeitig spürte er eine fast hooliganartige Lust nachzutreten. „Apropos Stadtwappen“, fuhr er in schulmeisterhaftem Ton fort, „Nürnbergs Adler ist mit ganzem Herzen Fleischfresser und kein seelenloser Veggie, der auf Klee und sonstiges Grünzeug steht — mit wie vielen Blättern auch immer!“

Jetzt war es ganz still. Nicht einmal die Männer lachten, obwohl die sich in der Regel gegen die sich unaufhaltsam ausdehnende hauptsächlich weibliche Armada aus Vegetariern und Veganern mit mehr oder minder unbeholfenen Witzchen zu wehren versuchten. Keine Solidarität mehr möglich! „Eine bleierne Zeit“, dachte er, auf die vielen undefinierbaren Klumpen schauend, die bisher schon aus dem Wasser gefischt worden waren.

Ausgerechnet Susanne fing sich nach geraumer Zeit als Erste wieder — scheinbar. Sie klang allerdings überhaupt nicht mehr wie „seine“ Susanne. Sie fummelte ein Herz aus dem verbliebenen, noch ungeschmolzenen Angebot, legte es auf ihren Löffel und hielt es demonstrativ neben die Flamme der Kerze. „Apropos Herz“, schnarrte sie dabei, „ein kaltes kann man nicht erwärmen!“ Und dann schnippte sie es in den Topf, wo es ganz ohne zu zischen auf den Boden sank.

So, dachte er resignierend, kann eine Beziehung auch untergehen und ein paar Freundschaften gleich mit! Er stand auf, erhob sein Glas als wollte er einen Toast ausbringen und ließ es dann abrupt auf den Tisch fallen, wo es zersprang. „Scherben bringen Glück“, prustete er dabei. „Ihr glaubt ja an so was!“ Mit diesen Worten ging er schnurstracks zu Garderobe. Niemand hielt ihn auf. „Na dann“, dachte er, in die kühle Nachtluft tretend, „Prost Neujahr!“


 

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