Das Haus der Ewigkeit in Wilhermsdorf

20.9.2016, 13:00 Uhr
Das Haus der Ewigkeit in Wilhermsdorf

© Foto: Petra Fiedler

„Die Friedhöfe der jüdischen Mitbürger liegen im Normalfall weit außerhalb des Ortes, so wie bei uns in Wilhermsdorf.“ Robert Hollenbacher hat zwar die Leitung beim Rundgang, doch er will nicht im Mittelpunkt stehen, sondern jüdischen Mitmenschen, zumindest mit Hilfe einiger auf den Grabstein existierender Inschriften, eine Identität geben.

Judenfriedhöfe sind meist schöne beschauliche Orte. Begrenzt von Mauern und alten Bäumen, galten sie den Menschen jüdischen Glaubens als Haus des Lebens für ihre Toten und als Haus der Ewigkeit für die Lebenden. Der 74-jährige Robert Hollenbacher hat viel über die Begräbnisrituale zusammengetragen und auch Familiengeschichten recherchiert.

35 Zeitzeugen hat er noch sprechen können. Allesamt Wilhermsdorfer, die die Reichspogromnacht und die Verfolgung jüdischer Nachbarn miterlebt hatten. Eine von ihnen, Emmi Wallmüller, gab ihm zu Protokoll: „Nie werde ich vergessen, wie die Kleine der Nachbarn geschrien hat vor Angst und vor Schmerz.“ Die Nazischergen hatten die Juden schwer misshandelt, ihr Hab und Gut im Wutrausch zerstört.

Hollenbacher hat viele grässliche Details gehört. Es gelingt ihm dennoch, das Unvorstellbare zu benennen, ohne dass ihm die Stimme bricht. Die Mienen seiner Zuhörer werden ernst, als er berichtet, wie die Juden ihren Wohnort zu Fuß verlassen mussten. Aus Wilhermsdorf zogen sie unter Begleitung eines Akkordeonspielers davon. Voller Menschenverachtung und Zynismus spielte er: „Muss i denn, muss i denn, zum Städtele hinaus…“. Danach gab es keine Juden mehr in Wilhermsdorf, und das ist bis heute so: „44 jüdische Frauen und Männer aus Wilhermsdorf“, weiß Hollenbacher zu berichten, seien nachweislich in den Konzentrationslagern ermordet worden.

Vor dem Holocaust waren im Ort über 400 Jahre lang jüdische Gläubige ansässig. Denn der älteste der insgesamt 550 Grabsteine ist auf das Jahr 1552 datiert. „Wir müssen davon ausgehen, dass damals vor dieser Beerdigung schon eine jüdische Gemeinde existierte“, sagt Hollenbacher. Das habe bedeutet, dass bereits im 16. Jahrhundert mindestens zehn volljährige Personen in Wilhermsdorf lebten.

Schlichte Steine

Jüdische Grabsteine sind eher schlicht gehalten. Je älter sie sind, umso mehr erinnern sie an die Tafeln der Zehn Gebote. Erst im 19. Jahrhundert ähneln sie Steinen christlicher Begräbnisstätten. „In diesen Gräbern liegen Angehörige der Cohn oder Cohen“, führt Hollenbacher aus und macht damit deutlich, dass diese Toten zu einem uralten und angesehen Stamm gehört haben müssen. Kannen oder Schüsseln hingegen seien Zeichen für rituelle Waschungen und Salbungen. „Das war den Angehörigen des Stammes Levy vorbehalten“.

Eine besonders augenfällige Symbolik ist auf der Grabstätte von Ludwig Keiner zu sehen. Ein stilisierter Baum rankt sich in Stein geschlagen am Grabmal entlang. Die Baumspitze ist abgebrochen. Hollenbacher weiß, dass solche Darstellungen Gräber sehr jung verstorbener Juden zieren. Und tatsächlich ist Ludwig Keiner nur 19 Jahre alt geworden.

Und dann ist da noch das Grab von Sammy Michelsohn, geboren 1889, gestorben 1924. Er hinterließ zwei Kinder. Der Sohn Willy schaffte durch halb Europa die Flucht nach Palästina. „Das weiß ich von ihm selbst“, berichtet Hollenbacher, der Willy Michelsohn am Telefon sprechen konnte. Die Fahrkarte, mit der Willy zuerst nach Passau gelang, bezeichnete er als „seine Lebensversicherung“, sie ist heute im jüdischen Museum in Fürth ausgestellt. Das Grab von Sammy Michelsohn ist aber noch aus einem anderen Grund von Interesse. Es sei das Einzige, auf dem nach 1945 noch eine Inschrift angebracht wurde.

Denn Willy Michelsohn wollte, nachdem Mutter und Schwester verschollen waren, wenigstens für den Vater eine, der Anonymität entrissene, Grabstelle schaffen. Das Grab wurde noch jahrelang von Roselinde Ertel gepflegt. Ihr Vater Friedrich Wallmüller war mit dem Buben Willy befreundet. Diese Verbindung hielt auch nach dem Krieg, die beiden blieben Freunde. Tatsächlich belastet es so manchen Besucher, dass mit diesem Grab und dem des Viehhändlers Naphtali Gottlieb die datierten Begräbnisse auf dem jüdischen Friedhof jäh abreißen. Plötzlich erklingt das Kaddish, das jüdische Totengebet wird gesungen. Es ertönt erstaunlich klar und kräftig aus dem Lautsprecher eines PC-Pads, das Robert Hollenbacher mitgebracht hat.

Die Zuschauer lauschen und man wünscht sich an diesem Abend, dass es noch im Original auf dem jüdischen Friedhof in Wilhermsdorf zu hören wäre.

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