Datenflut im Dampfbad

26.8.2014, 10:30 Uhr
Theobald Fuchs und die Fotografie: zwei Welten.

© Scherer Theobald Fuchs und die Fotografie: zwei Welten.

Um neun in der Früh treffe ich meinen Schlepper auf dem Parkplatz vorm Hersbrucker Thermalbad.

Drinnen gibt es dann die übliche Rangelei, wer als erstes in Schlappen und Badehose vor der Dusche auftaucht — das trockene Handtuch ist des Siegers Lohn. Das Handtuch. Einzahl. Obwohl wir uns auf der Stelle ungefähr zwei Millionen Handtücher kaufen könnten, bestehen wir auf dem gemeinsamen Gebrauch eines geschirrtuchgroßen Frotteelappens, der schon zu Elvis’ Zeiten seine goldenen Jahre hinter sich hatte. Es ist das heilige Handtuch, mit dem mein Verbindungsmann einst seinen Erstgeborenen im Hirschbacher Freibad trocken legte, während dieser Amerikaner den ersten Spaziergang auf dem Mond unternahm.

Mein Vater liebt Rituale.

Und Rituale sind, diesen Verdacht hege ich schon länger, nicht dazu da, verändert zu werden.

Unsere erste planmäßige Station ist das Freibecken. Während uns der strömende Regen auf den Kopf prasselt und weiter unten der heiße Massagestrudel am Höschen zerrt, wird mir en detail berichtet, was meine Eltern in den letzten vier Wochen erlebt haben: ein Ausflug in den bayerischen Wald, eine Landesgartenschau, ein Biergarten zwischen Baumwipfeln, ein Blaubeerkuchen und ein ausgezeichneter Cappuccino in einer Kleinstadt, wo man blau gemustertes Geschirr kaufen kann.

Vor allem jedoch widerfährt mir Verkündigung, dass diese spektakulären Abenteuer auf zahlreichen Fotos verewigt worden seien. Und dass es höchste Zeit sei, diese Bilder zu betrachten. Höchste Zeit für mich, denn mein Vater ist natürlich schon durch damit, zumal er ja die abgebildeten Gegenstände und Orte zuvor schon mit eigenen Augen gesehen hat.

Nur die wichtigsten vier- oder fünfhundert, das könnten wir schnell zwischen Mittagsschlaf und Kaffeetrinken erledigen. Aus reiner Freundschaft würde er mich bei der Betrachtung unterstützen, ermuntert er mich. Und aufpassen, dass ich keine Bilder überspringe.

Ich stöhne inwendig auf, wie vermutlich jeder vernunftbegabte Mensch, dem ein achtstündiger Fotospaziergang durch eine verregnete Landesgartenschau versprochen wird. Diplomatisch lächelnd sage ich „wenn es unbedingt sein muss“ und schlage vor, das Dampfbad aufzusuchen. Das gehört sowieso zum festen Ablauf des Badbesuchs, und ich verspreche mir dort eine fotografieferne Umgebung: Nebelschwaden, Dunkelheit, Tropfwasser.

Es ist freilich nur eine Frage der Zeit, bis sich auch das ändern wird. Bald wird es Kameras geben, mit der man auch im Dampfbad gestochen scharf fotografieren kann. Ein Algorithmus rechnet die Dunstschleier einfach raus, und Opa kann super sexy Bilder von Oma machen, wenn sie ihre vorbeugenden Rumpfbeugen macht, während Oma mit der Nebelkamera Opa knipst, der mit dem Wasserschlauch solange ins Kräuterbecken spritzelt, bis sich die ganze Besatzung über den Unruhestifter beschwert.

Bloß: Wohin mit diesen überbordenden Massen an Bildern? Wer soll das alles noch ansehen? Schon ohne Dampfbad-Modus kommen Kinder und Enkel längst nicht mehr nach. Sie selbst produzieren doch mehr, als man in einem ganzen Leben verarbeiten kann! Da reichten umgekehrt hundert Großeltern nicht aus, um alle Bilder und Filme zu bewältigen. Rein mathematisch blanker Wahnsinn: Jeder Großvater bräuchte hundert Enkel und gleichzeitig umgekehrt, da platzt jede Logikbirne in der Lichterkette der Vernunft.

Eine erste Abhilfe dürfte wiederum im digitalen Gewand einher schreiten – so wie ja man bekanntlich Feuer mit Öl bekämpft und Baulärm mit Musik. Einen Betrachtungsassistenten bräuchte es, der für uns die Bilder anschaut und nur bei Unklarheiten Rücksprache mit dem menschlichen Auftraggeber hält. Ansonsten findet das Programm die Bilder gut oder schlecht, je nach abgespeichertem Geschmack. Es lobt gelungene Aufnahmen und krittelt hier und da herum, an fleckiger Beleuchtung, schiefen Ausschnitten, dem hässlichen Auto im Hintergrund und einem halb geschlossenen Auge. Dieses Urteil wird dann per USB-Kurzschluss direkt an die Kamera übermittelt, die daraus lernt und ihre Technik verbessert. Nicht ein Unschuldiger käme mehr zu Schaden. Die Geräte würden zu einem geschlossenen Kreislauf verdrahtet, der ohne menschliche Eingriffe auskäme.

Das eigentliche Problem, dass viel zu viel fotografiert wird, wird dadurch natürlich nicht gelöst. Aber zum Glück gibt es ja mich! Während der Wassergymnastik im großen Nichtschwimmerbecken fällt mir die ultimative Abhilfe ein: eine Fotografie wird doch offenkundig gemacht, um einen Zustand festzuhalten, den man für einmalig hält. Zum Beispiel war ich bisher nicht wirklich oft in Omsk. Genau genommen nur einmal, und es gehört eher zu den unwahrscheinlicheren zukünftigen Ereignissen, dass ich diese Stadt ein zweites Mal besuchen werde. Ich machte Fotos, die den vergänglichen Zustand „In-Omsk-sein“ für immer konservierten, ehe der ganze Spaß auch schon wieder vorbei war.

Fein. Ergo könnte sich der schlaue Mensch der Notwendigkeit zu fotografieren ganz schlicht entledigen, indem er nur noch ewig dasselbe macht.

Exakt dasselbe.

Jeden Tag, jedes Jahr, mit schönen Grüßen an das Murmeltier. In einer sich perfekt wiederholenden Realität wird Fotografie an sich redundant. Wenn man eine Situation noch einmal sehen will, braucht man nur einmal zu schlafen.

Um in den Zustand totaler Konstanz einzutreten, ist freilich eine gewisse Änderung der Lebensweise vonnöten. Sogar bei Rentnern. Gleichwohl könnten sich viele Leute einfacher umstellen, als sie denken. Immer dieselben Kleider anziehen, dieselben Urlaubsziele ansteuern, mit demselben Ehepartner verheiratet sein, dieselbe Brille auf der Nase haben, dieselbe Zeitung (am besten diese!) lesen – so simpel wär's!

Und so dümple ich im lauwarmen Wasser, sinne über meine geniale Idee nach und male mir aus, wie Menschen zusammensitzen und Fotos betrachten, die sie dabei zeigen, wie sie Fotos betrachten, auf denen alles genauso aussieht wie außen umher, und auf den Fotos in den Fotos sind wieder Menschen zu sehen, die. . . aber Sie wissen schon, wie es weiter geht.

Ein breites Grinsen des Triumphs perlt über mein feuchtes Gesicht.

In diesem Moment zieht mein Vater einen ultimativen Trumpf aus dem abwesenden Ärmel: „Und ich muss dir unbedingt die neuesten Bilder vom Feuersalamander zeigen. Den habe ich letzte Woche zum zehnten Mal erwischt. Eine riesige Sammlung habe ich inzwischen, immer wieder exakt dasselbe Tier, zur selben Stunde auf demselben Stein. . .“

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