Der Baron ist mit seinem Latein am Ende

8.10.2011, 17:00 Uhr
Der Baron ist mit seinem Latein am Ende

© Auer

Der Beweis lagert in Holzregalen im Keller. Neben verbeulten Koffern stapeln sich dort Abertausende Hefte mit blauem Einband. Kubikmeterweise sind fein säuberlich die handschriftlichen Aufzeichnungen aus 45 Studienjahren archiviert. „Vielleicht kann ich sie eines Tages sichten“, sagt der Baron. Aber so richtig ernst meint er es nicht.

90 Semester an der Universität in Zürich. „Ich habe nicht so genau nachgerechnet, aber es wird schon stimmen“, sagt Meinhard von Seckendorff. Der Aufenthalt in der Schweiz hat sich halt um einige Jahrzehnte in die Länge gezogen. Täglich sechs bis acht Stunden Vorlesung über dies und das. Doch das Etikett vom ewigen Studenten will er sich deswegen noch lange nicht anheften lassen. Irgendwann hat er einen Minimal-Abschluss hinbekommen, das Lizenziat, „eine Art Nottaufe“.

Im ersten Stock des Obernzenner Schlosses besitzt der freundliche Herr mit den schlohweißen Haaren eine kleine Wohnung. Abgewetzte Teppiche bedecken die groben Holzdielen, die Zimmerdecken sind gefühlte fünf Meter hoch. An den zuletzt vor Jahrzehnten getünchten Wänden verraten weiße Flecken, dass dort noch vor kurzem Bilder hingen. Weg sind sie, perdu ist auch der massive Tisch mit den Löwenköpfen an den Füßen.

Dafür überall Bücher, Zeitschriften, Papierkram. Graf Rainer vom Blauen Schloss nebenan hatte ihm unlängst eine „genetisch bedingte Unordnung“ attestiert. „Eine Frechheit“, schimpft der Freiherr und sucht im Gewühl auf dem Schreibtisch die Einladung der Staatskanzlei.

Der Baron ist jetzt 67. Knapp zwei Jahre ist es her, dass er sich vom Besitzer des Züricher Hotels, in dem er zuletzt lebte, verabschiedet hat und heim in die fränkische Provinz gezogen ist. Notgedrungen. Denn seine finanzielle Lage war, höflich umschrieben, außerordentlich angespannt — von Seckendorff war pleite. „Der Baron ist mit seinem Latein am Ende“, schrieb die Zürcher Studierendenzeitung (ZS) im Februar dieses Jahres über den Mann, der einmal Lateinlehrer werden wollte.

Die Kurve zum Berufseinstieg hat der Freiherr nie gekriegt. Wie denn auch, wo er doch schon kurz nach seinem Studienbeginn 1964 „die Leitmotive seiner Biografie“ (ZS) entdeckt hatte: Frauen und Alte Sprachen. Er bediente sich querbeet bei den Geisteswissenschaften, mäandrierte durch das universitäre Lehrangebot und fand einfach keinen Fokus. Wer ihn kannte, bezeichnete sein Lernsystem wahlweise als uferlos und ziellos. Für die Studentenzeitung war er „das Fleisch gewordene Gegenstück zur ungeliebten Bologna-Reform“.

„Uni war meine zweite Heimat“

Nach Obernzenn kam der Baron in jener Zeit eher selten. Heute sinniert von Seckendorff über verpasste Gelegenheiten („Ich habe sicherlich nicht alle Chancen wahrgenommen“) und über seine Studienjahre („Die Uni war meine zweite Heimat“). Er habe geträumt, Professor zu werden, „jetzt kann ich nur noch Schriftsteller werden“. Wobei: Mit seinem Buch „Philosophie für Anfänger“ hat er es nicht weit gebracht: „Ich habe die dritte Seite noch nicht fertig.“

Der Baron ist eine ehrliche Haut. Freimütig erzählt er drauflos, von Tante Lea und Vetter Burkhard, den beiden Cousinen in München und Hamburg. Von seiner ersten Liebe Lieselotte und seiner ersten Frau Isabella. Und von Patrizia, der Frau seiner Träume. Sie hatten sich noch einmal gefunden, als sie schon geschieden waren. 2002 starb sie an Lungenkrebs: „60 Zigaretten am Tag, das konnte nicht gutgehen.“

Jetzt ist der sympathische Freiherr im Rentenalter, Single und der letzte männliche Abkömmling der Linie Seckendorff-Gudent. Und das Erbe ist futsch. Komisch ist das nicht, aber auch nicht besonders tragisch. Von Seckendorff macht sich selber Mut: „Als Philosoph sollte man nicht gleich anfangen zu heulen.“ Das Geld hätte ja reichen können, bis ans Lebensende. Stattdessen ist der Baron demnächst auf Hartz IV angewiesen.

Gut, dass er sich auch mit fernöstlichen Weisheiten beschäftigt hat. „Wenn ich mich nicht mit dem Zen-Buddhismus auskennen würde, bekäme ich Depressionen“, sagt der 67-Jährige über den Verlust seines Erbes.

„Ein Trauerspiel ist das“, klagt er. Damit bezieht er sich nicht etwa auf seine eigene verzwickte Lage, sondern auf das Verhältnis zu seiner Verwandtschaft. Dass er nach und nach seine antiken Möbel verkaufen muss, sei Graf Rainer ausgesprochen peinlich. „Er möchte am liebsten alles totschweigen“, sagt er über den Seckendorff-Aberdar im Nachbarschloss.

Schweigen — diesen Gefallen tut er seinem Cousin nicht. Er erzählt, wie es weiterging nach dem Tod seiner Mutter im Jahr 1985. Die Verwaltung des Roten Schlosses und der Güter hatte er damals einer Nürnberger Tante überlassen. „Bald bekam ich das Gefühl: Da läuft etwas schief.“

Seine Ahnung trog ihn nicht. Finanziell ging es steil bergab. Erst musste er seine Wälder verkaufen, dann die Äcker, später die Waffensammlung, Bilder und Möbel. 2001 drohte die Pfändung. Die Tante war verschwunden und mit ihr der stolze Betrag von 400000 Euro. „Die hat sich auf meine Kosten bereichert“, behauptet der Baron. Nachzuprüfen ist das nicht.

Erbe ging an eine Stiftung

Jedenfalls musste er 2004 das geerbte Viertel des Roten Schlosses an eine Stiftung verscherbeln. Ihm blieb lebenslanges Wohnrecht in drei Zimmern, Küche, Bad und Toilette. Im ersten Stock des herrschaftlichen Anwesens, das schon bessere Tage gesehen hat. Als im vorigen Winter wieder einmal die Heizung ihren Dienst quittierte, musste für die Reparaturkosten erneut eine Antiquität dran glauben: „Es war der letzte schöne Sekretär meines Vaters.“

Alle paar Wochen verkauft er ein weiteres Stück an Verwandte, um über die Runden zu kommen. Der Punkt ist nicht mehr fern, da ihm das Sozialamt in Neustadt die beantragte Grundsicherung genehmigen muss.

Es wird schon werden. Zur Not hebt die Lektüre von Plotins Werken die Stimmung. An der Züricher Uni war der fränkische Baron nach jahrzehntelangem Studium zum Exoten geworden. Nun ist er in Obernzenn der kauzige Sonderling, der mit dem Buch unterm Arm durch die Straßen zieht.

Absage „wegen Altersarmut“

Jaspers und Heidegger kann er ausgiebig zitieren, aber was nutzt ihm das am Stammtisch im Dorfwirtshaus? Abgesehen vom Schachklub in Bad Windsheim hat der 67-Jährige wenig Kontakt zur einheimischen Bevölkerung. Bei langen Fernsehabenden fühlt er sich „wie ein indischer Asket“. Zum Glück gibt es den Briefwechsel mit einigen Schweizerinnen.

Völlig überraschend hat er in diesen Tagen einen Brief aus München erhalten, eine Einladung der Staatskanzlei. Von Seckendorff soll zur Verabschiedung des Landesbischofs am 9. Oktober in die Landeshauptstadt reisen. Doch der Freiherr weiß nicht, wie er die Bahnfahrt bezahlen soll. „Da muss ich wohl absagen“, fürchtet er, „wegen Altersarmut“.

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