Der erste Weihnachtsmann

3.12.2013, 09:48 Uhr
Der erste Weihnachtsmann

© De Geare

Eigentlich wollte ich Taschentücher besorgen, aber die Marke, der ich vertraue, weil man sie in der Wäsche vergessen darf, gab es nicht. Ich ging unschlüssig durch die Regalreihen – ich wollte irgendetwas Kleines kaufen, um gut an der Kasse vorbeizukommen. Wenn man nichts kauft, sehen einen die Kassiererinnen an, als hätte man etwas gestohlen.

Und da war er, neben den sauren Gurken. Ich hatte ihn noch gar nicht erwartet. Vor mir stand der erste Nikolaus des Jahres, in glänzendes, rotgoldenes Stanniolpapier gewickelt, mit Sack und Pack und Bischofsmütze, für 89 Cents.

Er lächelte mich weihnachtlich an. Es war der 6. Oktober 2013. Ich kaufte ihn – ich wollte ihn meinem Freund in sein franken- und freudloses Exil schicken, eine spontane Idee und der Versuch, ihn hin und wieder ein wenig an meinem Leben teilhaben zu lassen; in diesem Fall am ersten Schoko-Nikolaus des Jahres.

An der Supermarktkasse fand ich die Idee noch toll. Kurz vorm Auto fand ich sie miserabel.

Was, wenn er gar nicht verstand, was ihm dieser erste Weihnachtsmann des Jahres sagen sollte?

Unsere Beziehung, die erst seit wenigen Wochen bestand, war zu der Zeit wie eine Seifenblase: leicht, schillernd in den schönsten Farben und ständig vom Zerplatzen bedroht. Ob sie einen Weihnachtsmann im Oktober aushalten konnte?

Oder würde dieser Nikolaus das Schicksal unserer Paarbeziehung endgültig besiegeln, den schönen Traum beenden und die Meinung endgültig zu meinen Ungunsten ausschlagen lassen - kein Mann im Schokoladenmantel, sondern ein winterlicher Wolf im Schafspelz?

Und, so lautete letztlich meine Überlegung, wie verschickt man eigentlich einen Weihnachtsmann? Packt man ihn in Paketpapier und klebt eine Marke drauf? Und was kostet es, einen Weihnachtsmann zu verschicken? Man kann ja schlecht in die Postfiliale gehen und fragen. Im Oktober.

Nun ja, wir hatten zwar vor Kurzem, es war in etwa Mitte September, zu einer Weihnachtslieder-CD zu Abend gegessen — er pfiff beim Nachhausekommen „Let it snow“ vor sich hin und setzte mir damit einen Wurm ins Ohr. Und natürlich, wir haben zusammen Lebkuchen genascht (wir sahen uns Tim Allen in „Santa Clause II“ an und brauchten einen passenden Popcornersatz). Auch die Diskussion, bei welchem Elternpaar dieses Jahr das Weihnachtsfest verbracht werden sollte, lief bereits.

Aber ein Nikolaus im Oktober – geht das nicht zu weit?

Ich hatte die Idee mit dem Weihnachtsmann bereits beim Einpacken in den Kofferraum wieder verworfen. Nur: Was sollte ich nun, Anfang Oktober, mit einem linealgroßen Weihnachtsmann zum Preis von 89 Cents anfangen?

Erst in diesem Moment wurde mir klar, was ich getan hatte: Ich hatte Anfang Oktober einen Nikolaus gekauft!

Ich war jetzt eine von denen, von denen man sich gar nicht vorstellen kann, dass es sie überhaupt gibt!

Schnell sah ich mich um, ob auf dem Parkplatz vielleicht ein Bekannter von mir war. Man durfte mich nicht mit dem Nikolaus sehen. Ich schloss den Kofferraum und sperrte ihn ab. Sicher ist sicher. Die Geschichte würde noch nach Jahren erzählt.

Es war ein bildschöner, sommerwarmer Oktobernachmittag — ich setzte beim Fahren meine Sonnenbrille auf: Jetzt cool bleiben, dachte ich. Auf dem Heimweg fuhr ich sehr behutsam und sah vorsichtig nach allen Seiten; ich wollte nicht in eine Polizeistreife geraten, mit meiner heißen Ware im Wagen. Ich fühlte mich ungeheuer verdächtig. Jetzt noch bin ich mir sicher, dass man mir die verbotene Fracht irgendwie ansehen konnte.

Eine halbe Stunde lang schwitzte ich bei jeder roten Ampel Blut: Im Film ist immer gerade das der Moment, in dem der Bösewicht zufällig irgendwie von jemandem aufgehalten wird, der dringend einen Blick in den Kofferraum werfen muss, wo die Leiche versteckt ist. Beziehungsweise der Weihnachtsmann.

Natürlich übertreibe ich. Ein Nikolaus ist keine Straftat. Er ist Schokolade in Silberpapier. Und dennoch: Während ich das hier schreibe, steht der Weihnachtsmann nicht vor mir. Ich konnte es nicht wagen, ihn ins Haus zu bringen, ich habe ihn im Auto zurückgelassen – versteckt unter der Kofferraumdecke, gleich neben dem Warnkreuz.

Und wenn er nicht dort bleiben soll, bis es eine angemessenere Zeit im Jahr für Nikoläuse ist, wird mir nur ein Weg übrig bleiben, ihn endgültig loszuwerden, ihn und seine verfrüht-vorweihnachtliche Schmach: Ich werde ihn essen müssen.

Einen Weihnachtsmann. Im Oktober.


 

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