Der Fluch des Mondes

22.6.2011, 11:30 Uhr
Der Fluch des Mondes

© FN

Als die ersten Anrufe bei der Polizei einliefen, dachte der wachhabende Beamte zunächst mürrisch an eine dieser blöden Internet-Ulkaktionen, ging aber nach dem vierten Mal doch ans Fenster. Tatsächlich. Der Mond war weg. Nicht etwa hinter einer Wolke verschwunden oder untergegangen, sondern weg. Wahrscheinlich hatte er all die Mondgedichte und Lieder satt gehabt, vielleicht gab es aber auch einfach einen netteren Planeten, den er in Zukunft umkreisen wollte. Auf jeden Fall war er weg.

Das, dachte der Polizist, und es wurde ihm heiß und kalt, ist aber blöd. Er wusste nicht genau, ob er dafür verantwortlich gemacht werden konnte, aber was er wusste, war, dass solche Dinge immer dann geschahen, wenn er Nachtdienst hatte. Also löschte er heimlich, still und leise alle Anrufe, in denen es um den Mond ging und tat am nächsten Morgen so, als sei nichts geschehen.

Es war aber etwas geschehen. Die Sonne ging zwar auf und es entwickelte sich ein strahlender Junitag, aber irgendetwas war faul. Viele Leute hatten ein komisches Gefühl, von dem sie nicht sagen konnten, woher es kam.

Die Hamburger allerdings merkten es zuerst. Die Elbe schwappte nämlich so vor sich hin und machte keinerlei Anstalten, so etwas wie eine Flut zu entwickeln. Die Nordsee, die eigentlich ein long-term-agreement mit dem Mond gehabt hatte, das auf einmal sehr einseitig gekündigt worden war, sah jetzt keinerlei Veranlassung mehr, das Watt zu fluten.

Am Abend dieses Tages hatte sich die Fläche Schleswig-Holsteins um 9000 Quadratkilometer vergrößert und die Preise auf Sylt fielen ins Bodenlose, weil es sich bei Sylt jetzt nicht mehr um eine exklusive Insel, sondern nurmehr um einen von mehreren pittoresken Hügeln in der neuen norddeutschen Tiefebene handelte. Zehn Milliarden äußerst verdutzte Wattwürmer begannen nach sechs Stunden sehr nervös auf die Uhr zu sehen und nach weiteren sechs begannen sie zu ahnen, was Apokalypse bedeutet. Zur selben Zeit allerdings hoben vierundzwanzig äußerst vergnügt grinsende Herren in der verschwiegenen Weinwirtschaft „Zum Blauen Mond“ in Baden-Württemberg ihr schäumendes Glas und riefen froh: „Er soll leben, der Mond! Prosit!“

Es handelte sich bei der fidelen Gesellschaft um die Betreiber der deutschen Kernkraftwerke, die soeben die frohe Botschaft erhalten hatten, dass jede Art von Gezeitenkraftwerken wohl nicht mehr ganz up to date und ganz sicher keine zeitgemäße Art der Energieerzeugung mehr waren. Atomkraft war die Energie der Stunde!

Dass die Erde sich ohne die Bremskraft des Mondes von nun an etwas beschleunigen würde, war jedem dieser Herren bewusst, aber auch egal. „Sechsstundentag!“ schrie einer von ihnen vor Vergnügen, „das wollen sie doch immer, unsere Arbeiter! Jetzt kriegen wir ihn alle!“ Dreiundzwanzig Herren schlugen sich lachend auf die Schenkel. Der bayerische Umweltminister war nicht weniger frohgemut. Zwar hatte die immer etwas übervorsichtige Kanzlerin zur Krisensitzung geladen, doch der Minister verbreitete Optimismus: „Der Mond wurde sowieso überschätzt!“ rief er den Kollegen von der CDU zu, „im übertragenen Sinn ist ja der Mond sozusagen die Opposition der Sonne, und ohne Opposition – wer wüsste das besser als wir Bayern – lässt es sich einfach besser regieren. Von jetzt ab sind wir in Deutschland eben ein Sonnenstaat! Es gibt wirklich Schlimmeres, denn“, verschmitzt beugte er sich vor und zwinkerte verschwörerisch, „denken Sie doch mal an all die Terrorstaaten, die den Mond in der Flagge haben – wie die jetzt dastehen!“

Er lachte dröhnend, dennoch war der Applaus etwas dünn. Das lag daran, dass die meisten Abgeordneten verwirrt auf ihr Handy starrten, das ihnen sagte, sie hätten keinen Empfang. Was der Umweltminister übersehen hatte – aber das war verzeihlich, schließlich gehörte der Mond nicht zur bayerischen Umwelt – war, dass all die Satelliten rings um die Erde durch eine minimale Abweichung im Schwerefeld soeben ihre Umlaufbahn in Richtung Beteigeuze im Sternbild Orion verlassen hatten.

Insgesamt jedoch begann sich weltweit und ungewöhnlich langsam, aber dann mit umso größerer Wucht, eine hysterische Panik zu entwickeln. Esoterikmessen wurden abgesagt. Unter Friseuren, die sich auf Mondphasenschnitte spezialisiert hatten, kam es verstärkt zu Selbstmorden. Dem deutschen Raumfahrtprogramm wurden die Mittel um fünfzig Prozent gekürzt und der neugegründeten Gesellschaft zur Rettung des Wattwurms überwiesen.

Deutschlehrer fragten sich verzweifelt, wie sie den zukünftigen Kindern der Sonnengeneration die neunzig Prozent deutschen Liedguts vermitteln sollten, in dem es um den Mond ging. In zahlreichen Fernsehspecials, die mittlerweile über reaktivierte, altmodische Fernsehtürme gesendet wurden, rechneten schlampig geschminkte Astronomen vor, dass die Erde durch die veränderte Bahn über kurz oder lang zur Hälfte nur noch in der Sonne, zur anderen Hälfte nur noch im Schatten liegen würde.

Die Grundstückspreise in der zukünftigen Dämmerzone explodierten, obwohl es bis zu diesem Zeitpunkt noch einige Millionen Jahre hin waren und über allen Städten kreisten komplett orientierungslose Vogelschwärme. Kurz – die Welt versank im Chaos. Nur die Schlafwandler und diejenigen, die sich für Werwölfe hielten, atmeten auf.

Es dauerte ein paar Jahre, bis die Welt sich an die mondlosen Nächte gewöhnt hatte. Aber der bayerische Umweltminister hatte natürlich Recht gehabt – es gab ja Millionen anderer Planeten, die auch keinen Mond hatten. Allerdings auch kein Leben, aber diesen Satz hatte er – da Wahlen bevorstanden – einfach aus der Rede gestrichen.

Obwohl die Sonne jetzt ohne Opposition regierte, war die Erde dunkler geworden. Zumindest für die dreitausendfünfhundert Wattwürmer, die sich die Zoos Europas gerecht teilten. Die deutschen Dichter besangen jetzt den Abendstern, aber im Stillen verfluchten sie den Mond, der sich so sang- und klanglos verabschiedet hatte, denn so ein Stern – das war einfach nicht dasselbe.