Der fremde Freund

8.4.2014, 09:22 Uhr
Zweifelnder Gastgeber: „Freiheit“-Autor Fritz Schnetzer.

© Hans Winckler Zweifelnder Gastgeber: „Freiheit“-Autor Fritz Schnetzer.

Ja, ich mochte ihn. Er war Gast des Hermann-Kesten-Kollegs, 22-jährig, ein junger Dichter und Deutschlehrer aus der Ukraine. Er unterrichtete an einem Gymnasium in Charkiv. Sergej wohnte bei einer befreundeten Familie, die Gastgeberin war Leiterin des Nürnbergkollegs.

Als ich Sergej erstmals sah, saß er im Dichtersessel des Komm und las Gedichte in ukrainischer und in deutscher Sprache. Rilke hatte er übersetzt, das Schwebende der Verse gewann in dieser mir fremden, fast singenden Sprache noch mehr an Leichtigkeit. „Alles will schweben...“ Auch die eigenen Gedichte Sergejs hatten einen eigenartigen Sehnsuchtsgeschmack, Aromen längst vergangener Welten, durchzogen von der Freiheit eines etwas melancholischen Gipfelstürmers unserer Tage.

Ein sympathischer Mensch.

Deshalb sollte und wollte ich an einem der letzten Tage seines Aufenthalts Fürth zeigen, den alten jüdischen Friedhof und, weil es gerade an der Zeit war, die Fürther Kirchweih. Unsere Stadt lebt auf während der Kärwa, angeflippt statt ausgeflippt erscheinen die Bewohner, brummige Gesichter überzieht ein Hauch von beinahe exotisch anmutender Lebensfreude. Alles im Leben „bassd irgendwie“.

Den jüdischen Friedhof wollte ich Sergej unbedingt zeigen, ich dachte an das reiche jüdische Leben in Fürth und ich dachte an das reiche jüdische Leben in der Ukraine. Fürth ist gleich Czernowitz, dachte ich, und Kiew, dachte ich, ach Kiew, und an die Schluchten von Babyn Jar.

Frau B. führte uns, voller Leben, voller Wissen, voller Herzblut. Viele Details, die sich zu einem Teppich der Erinnerung fügten.

Sergej folgte, nickte brav, stellte kaum Fragen. Er wirkte irgendwie teilnahmslos, abwehrend. Hinterher auf unserem Balkon meinte er, die Führung sei ihm zu „fundamentalistisch“, zu eifernd erschienen. Auch werde für seinen Geschmack zu viel Wesen um die jüdischen Friedhöfe gemacht, während die Soldatenfriedhöfe – er sei auf dem Nürnberger Südfriedhof gewesen – zu schlicht, beinahe „lieblos“ gestaltet seien, so drückte er sich aus. Ohne Pathos.

Ich äußerte meine Verwunderung, erklärte, dass für uns die Deutsche Wehrmacht, auch wenn unsere Väter oder Großväter in ihr gedient hätten und verwundet oder gestorben wären, dass diese Wehrmacht für uns Nachgeborenen sehr fragwürdig sei, ich dächte gerade an die Eroberungskriege im Osten mit all ihren Grausamkeiten und rassistischen Siedlungsprogrammen, kurz, dass viele Deutsche, darunter auch ich, diesen Bereich der Geschichte schamvoll verstecken wollten.

Er sehe das ganz anders, meinte Sergej. Schließlich habe Hitler die Ukraine von den Russen befreit – oder zu befreien versucht. Er sei ihm dafür dankbar.

Ob er denn wisse, was dieser „Erlöser“ mit der Ukraine vorgehabt habe, fragte ich, nun so sehr aufgebracht, dass mich meine Frau dämpfen musste. Die Kornkammer Ukraine sei schon immer sein Ziel gewesen, Lebensraum im Osten habe er gesucht, und die einheimische Bevölkerung sei für ihn zweitrangig, minderwertig, nur zum Aussterben oder für Sklavendienste geeignet. Da habe er keinen großen Unterschied zwischen Ukrainern und Russen gemacht. Es sei also auch für ihn, Sergej, kein Grund vorhanden, diesem so genannten „Erlöser“ dankbar zu sein. Meine Freude über diesen sensiblen, wie ich meinte, und gebildeten jungen Mann war erheblich erschüttert. Aber dann saßen wir doch noch entspannt auf den Bierbänken vor dem Theater und wir verglichen deutsche und ukrainische Empfindsamkeiten. Ich hörte bei Sergej einen nationalen oder vielleicht nationalistischen Unterton heraus, der mir fremd war. Er wollte Unabhängigkeit zwischen den Welten, zwischen den Fronten – aber auf welche Vorbilder bezog er sich da? Der Slogan meines Gemüsehändlers vom Waagplatz konnte auch nicht die Lösung sein: „Ob im Osten oder Westen, Bauer ist am allerbesten.“ Na ja. Das Weltkind, der reine Tor in der Mitte. Die Oligarchen seines Landes dienerten im Osten und bunkerten ihr Geld im Westen.

Und so schienen Sergej und mit ihm viele andere auf diesen absurden „dritten Weg“ verfallen zu sein: Die Wiederbelebung einer stinkenden Leiche, die Heiligsprechung eines Verbrechers.

Einige Tage später sollte ein Abschiedsfest stattfinden im Haus unserer Freunde, mit fränkischer Feinkost. Aber schon am nächsten Tag rief unsere Freundin erregt an, das Fest sei abgesagt, Sergej habe auf ihrem Computer merkwürdige rechte Kontakte gesucht, und ihren Abiturienten sei der Beginn einer Hitlerrede als Weckruf auf dem Handy aufgefallen. Und so wurde Sergej aus dem Tempel der Gastfreundschaft verjagt und bei einem Philosophen einquartiert, der dieses merkwürdige „Spurensuchen“ gelassener aufnahm.

Ich aber war empört und verbannte Sergej ebenfalls aus meiner Erinnerung. Ein Antisemit in unserem Haus? Ein Exorzist wäre nötig gewesen, wäre ich doch katholisch!

Jahre später die Demonstrationen auf dem Maidan in Kiew, hartnäckig, zäh, ausdauernd über Monate hinweg bei Schnee und Kälte. Ich bewunderte die Demonstranten, Männer, Frauen, diesen Mut, diese Wut. Die Heilige Märtyrerin Julia, den Blondzopf wie einen Ährenkranz, die leidende Milliardärin. Wozu dies alles? Demonstranten in dem Treibeis der Korruption. Und doch die Hoffnung, dass alles sich ändern würde. Und doch auch die Hakenkreuze auf den Barrikaden, heillose Kämpfer. Sergej fiel mir wieder ein, nach Jahren: voller Schrecken, voller Scham, auch er stand auf den Barrikaden. Mit welchem Ziel?

Ob ich ihn fragen sollte? Ich wusste es nicht.

Aber ich schämte mich für mein allzu schnelles Urteil.

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