Der Kampf ums Überleben als literarisches Abenteuer

28.6.2017, 14:00 Uhr
Der Kampf ums Überleben als literarisches Abenteuer

© Fotos: Patricia Blind, Marcus Weier

Der Kampf ums Überleben als literarisches Abenteuer

© Fotos: Patricia Blind, Marcus Weier

Haie, die wiederbelebt werden und Raupen, die ihr eigenes Grab schaufeln: im Kulturforum beleuchtet Eva Menasse mit tierisch guter Finesse am Samstag ebenso skurrile wie banale Familientragödien. Die Wiener Erfolgsautorin ("Vienna", "Quasikristalle") muss oft in verschiedene Rollen schlüpfen. Mal kennt man sie als die Halbschwester von Schriftsteller Robert Menasse, dann wieder als Tochter des Fußballprofis Hans Menasse oder aber als gefragte Journalistin bei Spiegel und FAZ. Für ihre Bücher muss sich die 47-Jährige ebenfalls "verkleiden": den grantigen Opa spielt sie am Liebsten, verrät sie im Interview mit Dirk Kruse.

Auch in ihrem neusten Erzählband "Tiere für Fortgeschrittene" verlässt die Preisträgerin ihre eigene Blickperspektive. Menasses Autorenrolle verlangt, dass sie sich immer wieder überlegt "wie man Geschichten anders erzählen kann". Stets versucht sie die Realität abzubilden, sammelt dafür menschliche Eigenarten, tragikomische Tiefpunkte und zwischenzeitliche Glücksmomente.

Facettenreicher Mustermann

Dabei sei ihr aufgefallen, dass auch ihr Beobachtungsgengenstand gern Theater spielt. Der knallharte Manager wird Daheim zum Brote schmierenden Papi, und selbst den unfreundlichsten, parkplatzklauenden Deppen "hat jemand lieb". In "Tiere für Fortgeschrittene" schafft sie eine Menagerie überraschend facettenreicher Max Mustermanns.

"Haie" berichtet von einer Gutmenschen-Mutter, die gegen Vorurteile ankämpfend ihre eigene Moralität hinterfragen muss. In "Raupe" lässt ein dogmatischer Patriarch seine demente Gattin Fensterputzen – weil sie das einst glücklich gemacht hat. "Enten" erzählt von Jenna, deren Alltagsprobleme im Angesicht der Holocaust-Todesflucht ihrer Eltern zwar trivial wirken, aber dennoch erdrücken.

Die doppelbödige Dramaturgie offenbart, dass unter jedem faden Bürgertums-Mantel eine unterschwellige Existenzkrise steckt. Um diese zu entdecken, muss der Leser die sardonischen Leerstellen der insgesamt acht Kurzgeschichten selbst füllen. Menasse, die "Dinge so unverstellt wie möglich" zu schildern sucht, weiß, dass Realität sich nicht in ordentliche Kausalketten verpacken lässt.

Neben den offenen Enden regen besonders die jeder Erzählung vorangestellten Tiermeldungen wilde Spekulationen an. Haie werden hier von Zoodirektoren wiederbelebt, Raupen werkeln an ihrem eigenen Grab, Enten halten selbst im Schlaf nach Fressfeinden Ausschau.

Ist Nora der Zoodirektor? Der Alte die Raupe? Jenna die Ente? Menasse vermeidet es, die Meldungen als bloße Allegorien abzutun.

Die Literatur sei für sie "eine Kunst, die etwas zum Schwingen bringen soll" und keiner plakativen Logik bedarf. Nicht die Tiere selbst, sondern der menschliche Blick auf die skurrilen Berichte hilft der Autorin scheinbar, Normalität abzubilden. Ebenso wie über grabschaufelnde Raupen gelacht und zugleich geweint werden kann, amüsiert die Starrköpfigkeit des Ehegatten uns trotz der ausweglosen Demenz seiner Frau.

Menasse wird zur Anthropologin, die mal schwarzhumorig, mal liebevoll, nie herablassend kuriose Meldungen über das Tier Mittelstands-Mensch zusammenstellt. Trotz aller Misere zeigt sie in "Raupen": "das Leben ging einfach weiter" – und damit auch der ganz normale, tierische Wahnsinn.

PEr gilt als einer der wichtigsten deutschsprachigen Autoren, ist Büchner-Preisträger, überzeugter Europäer und Kosmopolit: Der Schweizer Adolf Muschg plauderte im Rahmen des Fürther Literaturfests "Lesen!" im Kulturforum über Abmachungen mit Gott und über die Kunst, seine Tage breiter zu leben.

Die Bahn war pünktlich und so ist es Adolf Muschg auch. Trotzdem könnte sein Zeitplan manchem eine Spur eng erscheinen. Doch fünf Minuten nach seiner Ankunft nimmt der 83-Jährige ausgeruht, hellwach und offensichtlich unbeeindruckt von Hitze oder Anstrengung auf der Bühne Platz. Die Frage, warum in seinem Werk bislang nichts Lyrisches zu finden ist, lässt er Goethe beantworten.

"Oh weh! Errege nicht mein Sehnen...", zitiert der Schriftsteller schmunzelnd und bekennt, dass er sich bis zu seinem 18. Lebensjahr für einen kommenden Lyriker hielt. Doch seine Gedichte ruhen seither in irgendwelchen Schubladen. Stattdessen hat Muschg, Romancier, Essayist und Literaturwissenschaftler, sein neues Buch dabei: "Der weiße Freitag. Erzählung vom Entgegenkommen."

Und wieder nimmt er sich Goethe vor, den Lebens-Künstler. Der weiße Freitag war der 12. November 1779, als der 30-jährige Goethe sich daran macht, den schweizerischen Furka-Pass zu überqueren – ein gewagtes Unternehmen zu dieser Jahreszeit. Er wird begleitet von seinem Dienstherrn, dem knapp acht Jahre jüngeren Herzog Carl August aus Weimar. Für Muschg offenbart sich in dieser Tour viel mehr als ein leichtsinniger Ausflug. Vielmehr erkennt er darin einen Versuch des Dichters, die Verlässlichkeit seines Fürsten zu testen, bevor sich er sich dafür entscheidet, sein ganzes Leben am Weimarer Hof zu verbringen.

"Ziemlich unvernünftig", erscheint Muschg diese Idee. "Der Subtext hieß: Wenn wir da durch kommen, dann soll uns im Leben nichts mehr stoppen." Eine beinahe "eheähnliche Gemeinschaft" zwischen den beiden sei damals entstanden.

Deal mit Gott

Adolf Muschg verknüpft seine Erzählung mit der eigenen Biografie und einem sehr persönlichen Rückblick. Dabei offenbart er, leidenschaftlich am Leben zu hängen. Im Gespräch mit Moderator Dirk Kruse lässt er immer wieder anklingen, dass er mit Gott den ein oder anderen Deal laufen hat. Diese eine Geschichte will er noch schreiben, dieses Buch vollenden. Keine Frage, da ist er jetzt wieder bei Goethe, dessen Faust einen teuflischen Pakt geschlossen hat. Aber nein, Muschg will nicht den perfekten Augenblick für immer genießen: "Aber ich lerne langsam, die Tage breiter zu leben."

Neid spüre er beim Anblick "junger Leute, die wie Zombies auf Bildschirme" stieren. Goethe habe das Gegenteil davon praktiziert und sei stets mit allen Sinnen "anwesend" gewesen. Eine Fähigkeit, die auch der Schweizer beherrscht – auch wenn er zugibt, sich nicht recht erinnern zu können, 2005 schon einmal in Fürth gelesen zu haben. "Aber als ich die Stadt vorhin sah, da fand ich sie sehr schön." Es berühre ihn, dass Fürth geprägt wurde von jüdischen Autoren, Stiftern, Unternehmern: "...und im nahen Nürnberg hetzte dann Julius Streicher. Was für eine Geschichte, was für eine Konstellation."

"Das alles", wird er später sagen, "interessiert mich – ich möchte wirklich noch eine Weile dazugehören."

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