Der Kritiker-Popstar

20.9.2013, 13:00 Uhr
Der Kritiker-Popstar

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Der Schriftsteller

Der Kritiker-Popstar

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Deutschstunde. Auch ohne den doppelten Sinn dieses Wortes hätte meine erste Begegnung mit Marcel Reich-Ranicki kaum literarischer sein können. Es war tatsächlich eine Deutschstunde, und unser Lehrer versuchte manchmal tapfer, aber oft verzweifelt, uns mit dem literarischen Leben Deutschlands vertraut zu machen.

Er brachte an diesem Morgen eine Kritik des letzten Böll-Buches „Frauen vor Flusslandschaft“ mit. Eigentlich saß ich in diesem Leistungskurs meist mit einer Mischung aus einem Zehntel widerwilligem Interesse und neunzig Prozent überheblicher Langeweile. Ich schrieb ja selber und las, was ich wollte – was sollte man mir schon beibringen? Aber damals liebte ich Heinrich Böll, und diese Kritik war ein ziemlich gnadenloser Verriss – nur leider sehr gut geschrieben. Trotz all der jugendlichen Arroganz, die man mit achtzehn Jahren hat – ich konnte nicht umhin, mir den Namen zu merken, auch, wenn ich mir vornahm, Reich-Ranicki nicht leiden zu können.

Deutschstunde. Neben Heinrich Böll war Siegfried Lenz eines meiner literarischen Vorbilder. Ich hätte gerne so geschrieben wie er. „Deutschstunde“ war der Roman, den ich sicher fünf Mal gelesen habe. Nur hätte ich damals nicht sagen können, wieso er so gut ist. Als Reich-Ranicki aus Polen nach Deutschland kam, wurde Lenz einer seiner ersten und engsten Freunde. Auch das konnte ich damals nicht verstehen: Reich-Ranicki war oft so polemisch, so leidenschaftlich boshaft oder so überschwänglich begeistert und Lenz so leise nachdenklich. Was war denn an Reich-Ranicki so besonders außer seiner unverwechselbaren Sprechweise, die es so leicht machte, ihn zu karikieren?

Deutschstunde. Das „Literarische Quartett“ war noch nicht sehr lange aus der Taufe gehoben, als ich mein erstes Buch veröffentlichte. Wer in Deutschland schreibt, der kam an Reich-Ranicki nicht mehr vorbei. Man musste dazu nicht von ihm besprochen werden, selbst, wenn man insgeheim manchmal im Stillen davon träumte, wie es wohl wäre, wenn man selbst... im „Literarischen Quartett“... selbst wenn es ein Verriss wäre... Ich glaube, ich bin nicht der einzige und nicht der jüngste Schriftsteller in Deutschland gewesen, der diesen Traum hatte.

Eine Besprechung im „Literarischen Quartett“ war der Ritterschlag in der Welt der Literatur – weit mehr als heute das Erscheinen auf der Spiegel-Bestsellerliste. Denn das „Literarische Quartett“ war tatsächlich eine Deutschstunde, wie sie eigentlich sein soll: Leidenschaftlich, witzig, voller Emotionen, und erst, als ich eine ganze Reihe davon gesehen hatte, merkte ich, dass ich auf einmal verstand, wieso „Die Deutschstunde“ von Lenz so ein großartiges Buch ist. Reich-Ranicki erklärte in diesen Sendungen nämlich, wie ein Buch funktioniert, und wenn es nicht richtig gebaut war, dann sezierte er die Schwächen wild gestikulierend und lispelnd, aber mit gnadenlos scharfer Zunge. Und zum ersten Mal bekam ich eine Ahnung davon, wieso Reich-Ranicki und Lenz Freunde waren: Weil ernsthafte literarische Kritik die Literatur besser macht und weil Reich-Ranicki die Literatur so liebte, dass er immer ihr Freund war und sie immer besser machen wollte.

Zu meiner Schande muss ich sagen: Auch damals hatte ich immer noch nur zur Hälfte verstanden, was dieser Mann tatsächlich für die deutsche Literatur getan hat. Jeder weiß, dass Reich-Ranicki das Warschauer Ghetto überlebt hat und trotzdem in Deutschland Journalist geworden ist. Aber ich glaube, es ist schwer bis gar nicht nachzuvollziehen, was es wirklich bedeutet, nicht viel mehr als zwanzig Jahre später nach dem Holocaust als überlebender Jude auf einer Party zum Smalltalk mit dem ehemaligen Rüstungsminister Albert Speer, einem der Hauptkriegsverbrecher, aufgefordert zu werden. „Er war bezaubernd zu mir“, sagte Reich-Ranicki wieder zwanzig Jahre später in einem Zeit-Interview.

Nachdem ich dieses Interview gelesen hatte, habe ich Reich-Ranickis typisches Lispeln, sein auch im Alter noch nonchalantes Näseln nur noch sehr respektvoll imitiert. Wie bei einem Lehrer, dessen Marotten unübersehbar sind, den man aber doch achtet, weil er ein echtes Original ist und einem tatsächlich etwas beigebracht hat. Reich-Ranicki hat keinen geringen Teil dazu beigetragen, dass nach Auschwitz deutsche Literatur wieder möglich wurde. Und er hat dabei seinen Humor nicht verloren. Das ist wirklich keine geringe Lebensleistung. Und wer will, kann sich vor ihm verbeugen, ohne sich dabei peinlich vorzukommen.

EWALD ARENZ (Pädagoge, Schriftsteller, Bühnenautor und Fürther Kulturpreisträger. Von ihm erschien zuletzt sein Roman „Ein Lied über der Stadt“)

Der Kritiker-Popstar

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Der Buchhändler

Für mich ist MRR eine sehr ambivalente Figur. Eins vorweg: Die deutsche Literatur hat ihm unendlich viel zu verdanken. Er war der unangefochtene Kritiker-Star. Er hat für die Literatur gelebt, und er hat durch die Literatur überlebt. Bücher waren sein Lebenselixier Ein manisch besessener Leser. Vielleicht der größte Leser, den es in diesem Land je gegeben hat. 

Er hat mit seinen Pfunden gewuchert über jedes Maß hinaus, er hat es eingesetzt für die Autoren, für die Literatur, die er liebte. Manches Urteil von ihm war hart, manchmal überzogen, auch menschlich grenzwertig. Aber er tat dies alles aus der tiefen Überzeugung heraus, im Sinne guter Literatur zu handeln. Er wusste das, die Samthandschuhe waren seine Sache nicht.

Sein „Kanon der deutschen Literatur“, ein irreführender Titel. Denn er versammelte dort doch „nur“ seine schönsten Leseerlebnisse. Er selber sagte, man könne keine verbindliche Liste überhaupt nur in Erwägung ziehen. In den letzten Jahren, als es schon stiller um ihn wurde, konnte man schon die Lücke spüren, die er jetzt hinterlässt. Wahrscheinlich kann sich kein Kritiker mehr im deutschen Feuilleton so eine Deutungshoheit erstreiten, wie sie MRR besaß. Er wird uns fehlen, was für ein Leben. 

Für uns Buchhändler war er ein Segen, denn er hat etwas geschafft, was unendlich schwer ist. Er hat viele von uns nicht nur zum Lesen animiert; er hat es geschafft, dass wir leidenschaftlich über Bücher diskutieren, dass wir über sie streiten, dass wir uns ereifern. Und das ist gut so. Danke!

HEINZ KREKELER (Geschäftsführer der Buchhandlung Edelmann an der Freiheit) 

Der Kritiker-Popstar

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Der Verleger

Erst vor drei Wochen habe ich ihn in meiner kleinen Ansprache bei unserem Jubiläumsfest sehr lobend erwähnt, denn das „Literarische Quartett“ startete exakt im Gründungsjahr von ars vivendi, also 1988. Natürlich hat Reich-Ranicki, dieser Popstar unter den Kritikern, mit seinen klaren, oft witzigen und messerscharfen Kritiken die Gegenwartsliteratur geprägt wie kein anderer.

Und in meiner Achtung stieg er noch mehr, als er 2008 den Deutschen Fernsehpreis überreicht bekommen sollte und ihn dann vor laufender Kamera ablehnte mit dem Hinweis auf den „Blödsinn, den wir heute Abend zu sehen bekommen haben“. Einfach stark – ein unermüdlicher Kämpfer, ein wortgewaltiger Streiter und Verfechter für anspruchsvolle Kultur.

Dass er sich nach der Verfolgung durch die Nazis entschieden hatte, trotzdem in Deutschland zu leben und zu arbeiten, ist als solches besonders hervorzuheben. Für mich unvergesslich seine Rede zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus vor dem Deutschen Bundestag und die anschließende berührende, ergreifende Stille im Plenarsaal.

NORBERT TREUHEIT(Gründer und Verleger des ars vivendi Verlags in Cadolzburg)
 

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