Der Mann ist ganz und gar nicht von Pappe

30.11.2015, 16:54 Uhr
Der Mann ist ganz und gar nicht von Pappe

© Foto: Pfrogner

Männer, die zur Schere greifen und als Anziehpuppe auftreten, sind rar. Wahrscheinlich ist Ennio Marchetto ohnehin ein Solitär in diesem Metier. Noch bemerkenswerter ist, dass der 55-jährige Venezianer bei seinem Treiben allzeit bella figura macht und seine Zuschauer rasant unterhält.

Dabei beginnt der Abend in Fürth mit einer Panne. Die Scheinwerfer fokussieren die Mitte der Bühne. Marilyn Monroe haucht vom Band „I wanna be loved bei you“ und dann tänzelt er herein: Ennio Marchetto. Ach was. Es ist Marilyn und sie trägt dieses weiße Kleid mit dem atemberaubenden Ausschnitt. Ein traumhafter Anblick. Bis zu dem Moment, in dem sich ungewollt ein Teil von dem löst, was das Dekolletee der Schönen ausmacht. Und während dieses elementare Stück noch in der Luft flattert, verwandelt es sich wieder in das, was es immer war: ein Stück Papier.

In diesem Augenblick wird klar, worin die große Kunst des Ennio Marchetto besteht: Illusion ist sein Gewerbe, das er auf magische Weise beherrscht und das sich zunächst so bescheiden ausnimmt. Er hat schließlich nur Pappkameraden entworfen, die er vor sich herträgt. Bekleidet sind die Dinger mit charakteristischen Outfits, die verblüffend wandelbar sind. Das klingt simpel, ist es im Grunde auch – abgesehen davon, dass man erst einmal auf so eine abgefahrene Idee kommen muss. Obendrein hat der fingerfertige Könner eine Art von Origami-Technik entwickelt, die es ihm erlaubt, blitzschnell neue Kreationen zu entfalten. Auf diese Weise lässt er in einer Programmstunde rund 60 Weltstars antanzen.

Wer jetzt „So ein Quatsch“ murmelt, hat vielleicht recht. Aber er hat diesen Papiertiger garantiert noch nie erlebt. Denn Marchettos skurrile Inszenierung hat etwas Unwiderstehliches. Was sicher auch an dem frappierenden Wiedererkennungseffekt liegt, mit dem er seine Protagonisten vorführt.

Da sind zum einen seine Zeichnungen, die wie Karikaturen aufs Wesentliche reduziert und absolut typisch sind. Zum anderen gelingt es ihm, vertraute Bewegungsmuster in wenigen Schritten wachzurufen. Wer würde etwa Elvis nicht am Hüftgewackel identifizieren?

Angesichts der Plätze, die bei Ennio Marchettos Auftritt im Theater frei blieben, könnte man jetzt vermuten, dass der Mann als Geheimtipp gehandelt werden darf. Eine Vermutung, die in Fürth offensichtlich zutraf. Andernorts nicht, da sind ausverkaufte Häuser die Regel. Wofür übrigens auch knapp acht Millionen Zugriffe auf ein Marchetto-Video bei YouTube sprechen.

Was auf jeden Fall ausschließlich offline zur Geltung kommt, ist der subtile Witz, den der Künstler enthüllt. So verwandelt sich bei ihm Rammstein-Sänger Till Lindemann mit wenigen Handgriffen in Heino. Aus Jesus Christus als Musical-Star wird Conchita Wurst. Ebenso mühelos bastelt Marchetto aus den vier Mannen von Kraftwerk, den weisen Vorreitern elektronischer Musik, den Hochtöner Thomas Anders. Dessen Mitstreiter bei Modern Talking tritt als Handpuppe auf. Dumm gelaufen, Dieter Bohlen.

Nicht immer ist der Italiener, der eigentlich in die Kaffeemaschinen-Reparatur-Werkstatt seines Vaters einsteigen sollte, so dezent. Wenn Schlagerfrau Andrea Berg schimpft „Du hast mich tausendmal belogen“ und sich dabei als VW entpuppt, laufen Deutungsversuche nicht ins Ungewisse. Der Abschied von Ennio Marchetto schmerzt. Während Mick Jagger noch einmal „Angie“ röhrt, kommt die Bundeskanzlerin und wird zu Helene Fischer. Das mag jetzt interpretieren, wer will.

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