Der schlafende Fisch

2.10.2012, 09:23 Uhr
Der schlafende Fisch

© hjw

Als kurz nach Öffnung des Museums die Warteschlange moderate 25 Meter lang war, dachte Kuratorin Dr. Dr. Ruhm-Schöngeist noch, das würde ein normaler Tag werden. Nicht ohne Freude hatte sie sich einen Feldstecher besorgt und wettete mit den Kollegen jeden Vorabend, welche neuen Längenrekorde die Schlange der Kunstinteressierten morgen erreichen würde. Bislang war sie schon viermal richtig gelegen: 228,50 Meter am ersten Tag, 232 am dritten, dann ein leichter Einbruch (205,80 Meter am letzten regnerischen Mittwoch) und gestern wieder 245 Meter. Heute würden sie erst mal die 300-Meter-Marke knacken, wenn es nach Dr. Dr. Ruhm-Schöngeist ginge.

Gegen 10.30 Uhr meldete die Pforte eine Eilsendung aus St. Petersburg (Eremitage-Museum). Da es sich offenbar um ein wertvolles Kunstwerk handelte, ließ Dr. Dr. Ruhm-Schöngeist die Kiste in einen klimatisierten Raum ohne Tageslicht bringen. Zusammen mit einer aus der Ukraine stammenden wissenschaftlichen Mitarbeiterin und dem Projektleiter der Dürer-Schau, Herrn Dr. Pinselstrich, nahm sie den Inhalt in Augenschein, nachdem der Hausmeister alle Nägel aus der Kiste gezogen und den Deckel geöffnet hatte.

„Was soll denn das sein?“, fragte Dr. Dr. Ruhm-Schöngeist. Die Lupe brauchte sie vorerst nicht, das Gemälde war ein Aquarell, etwa 70 Zentimeter lang und 50 Zentimeter hoch und zeigte...

„Ein Fisch“, sagte Dr. Pinselstrich, während er sich schnüffelnd der Bildoberfläche näherte.

„Ich sehe, dass es sich hier um einen Fisch handelt“, erwiderte die Kuratorin ungehalten. „Aber warum schickt uns die Petersburger Eremitage einen Fisch?“

„Es ist ein Frühwerk von Albrecht Dürer“, meldete sich Irina, die ukrainische Kunsthistorikern, die ein Begleitschreiben in der Hand hielt. „Wie bitte?“, in Dr. Dr. Ruhm-Schöngeists Stimme mischte sich Verwunderung mit Entsetzen.

„Sie entschuldigen sich vielmals für die Verspätung“, übersetzte Irina. „Aber die Kiste ist beim Versand versehentlich in eine Maschine nach Bischkek verladen worden. Dort hat man damit nichts anfangen können und sie im Heizungskeller des Flughafens deponiert.“

„Im Heizungskeller?“, Pinselstrichs Stimme überschlug sich.

„Ja, glücklicherweise war die Heizungsanlage aber kaputt“, las Irina weiter. „Als die Russen den Irrtum bemerkten, holten sie das Bild zurück und untersuchten es auf Schäden. Nachdem es nicht stark gelitten hat, schicken sie es nun für die Ausstellung nach. Wir freuen uns, Ihnen das unbekannte Frühwerk Dürers ,Der schlafende Fisch‘ doch noch zur Verfügung stellen zu können“, zitierte sie.

„Unbekannt ist gut“, Dr. Dr. Ruhm-Schöngeist nahm das Schreiben an sich. „Wo ist denn die Signatur“, Dr. Pinselstrich fegte die letzten Holzwolleknäuel zur Seite und hantierte mit einer Lupe.

„Dieser Fisch hat tatsächlich Augenlider“, stellte Irina verwundert fest. „Und er wirkt, als ob er auf der Seite liegt.“

„Da sieht man doch schon, dass es sich hier um einen kolossalen Schwindel handeln muss“, rief Dr. Dr. Ruhm-Schöngeist. „Selbst ich weiß, dass Fische keine Augenlider haben!“

„Die Signatur ist jedenfalls vorhanden“, stellte der Projektleiter fest, der das „AD“ in der Schwanzflosse des Fisches gefunden hatte.

„In der ganzen Literatur findet sich nicht ein winziger Hinweis darauf, dass Dürer jemals einen Fisch gemalt hat... noch dazu mit Augenlidern!“ Dr. Dr. Ruhm-Schöngeist ließ sich auf einen Stuhl fallen. „Dieser Fisch stinkt...“

„Vom Kopf her gebe ich Ihnen recht“, sagte Dr. Pinselstrich. „Vom Bauch her glaube ich, dass hier etwas Großes liegt.“

„Dürer war doch für seine haarscharfe Abbildung der Wirklichkeit berühmt“, grübelte Irina. „Wie kann es dann sein, dass er einen Fisch mit Augenlidern malt?“

„Dürer hat auch Schweine gemalt, die es heute nicht mehr gibt.“ Der Projektleiter hob triumphierend den Zeigefinger. „Die konnten dann nur aufgrund von Dürers gestochen scharfer Darstellung nachgezüchtet werden, also?“

„Was also?“, Dr. Dr. Ruhm-Schöngeist wirkte immer noch verzweifelt.

„Woher wissen wir denn, dass es um 1500 KEINE Fische mit Augenlidern gab? Wäre doch möglich, ja, durch dieses Dürerbild sogar wahrscheinlich.“

„Dann wäre dieses Bild nicht nur eine kunsthistorische sondern auch eine archäologische Sensation“, ergänzte Irina.

„Das ist doch unseriöse Scharlatanerie“, rief die Chefin. „Wir müssen die Echtheit feststellen lassen, ehe wir auch nur daran denken...“

„Aber denken Sie doch mal an Ihre Warteschlange“, gab Dr. Pinselstrich zu bedenken.

„Sie meinen...“

„Genau, bisher haben wir nur in Metern gedacht“, der Projektleiter durchmaß den Raum mit großen Schritten. „Jetzt sollten wir in Kilometern denken. Unter Umständen muss die Stadt den Ring sperren.“

„Ich werde darüber nachdenken“, Dr. Dr. Ruhm-Schöngeist griff zu ihrem Feldstecher. „Bereiten Sie schon mal eine Presseerklärung vor...“



 

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