Der zornbebende Trommler ist gegangen

14.4.2015, 10:30 Uhr
Der zornbebende Trommler ist gegangen

© Foto: United Artists

Noch vor allem anderen war es der kleine Roman — eigentlich nur eine Erzählung — „Das Treffen in Telgte“, auf dessen Titelblatt mir im Alter von sechzehn, siebzehn Jahren das erste Mal der Name Günter Grass begegnete. Eine Schullektüre. Ausgesucht von Lehrern, die vermutlich fast im selben Alter wie Grass und im Krieg Kinder oder Jugendliche gewesen waren; Lehrer, denen das kleine Büchlein wohl etwas bedeutete, weil es von der Kraft der Literatur über die Zerstörung sprach.

An uns war das Buch fast vergeudet. Was wussten wir von der wunderbar geschwungenen Parabel zwischen den barocken Dichtern in der Katastrophe des Dreißigjährigen Krieges und der Gruppe 47 in den physischen und moralischen Trümmern Deutschlands? Was wussten wir von der Not einer Literatur, die in einem Deutschland, in dem „Der Mond ist aufgegangen“ gedichtet worden war, weder Holocaust noch Zweiten Weltkrieg hatte verhindern können? Was wussten wir von dem jungen, desillusionierten, aber immer noch zornigen Grass, der uns gerade deswegen doch hätte nah sein müssen?

Es war das vollkommene Versagen unseres Deutschunterrichts, in dem wir damals Lektüren hatten und keine Bücher, dass mir Grass damals so fern wie Goethe, nein, noch ferner erschien, denn Goethes „Faust“ immerhin konnte mich begeistern. Und es war das Verdienst seines Könnens, dass mir „Das Treffen in Telgte“ doch in Erinnerung geblieben ist. Anscheinend war in diesen Worten eben doch so viel Kraft, dass es nicht einmal mein Deutschunterricht es schaffte, diese Erzählung zu grauer Pappe zu zerkauen.

Und dann: „Der Butt“. Für mich ein Buch, das auf vielschichtige Weise Heimat bedeutete. Grass stammte aus Danzig wie meine Großmutter und meine Mutter. Ich war mit den Geschichten und vor allem der Sprache aus der verlorenen Heimat aufgewachsen, hatte sie aufgesogen; so sehr, dass mir meine Geburtsstadt und die Sprache immer ein klein wenig fremd blieben. Und dann war da dieses Kindheits-Danzig im „Butt“, ausgebreitet und ausgemalt und voller kleiner Geschichten in der großen, wie es eben nur jemand schaffen kann, der die Sprache wie der Maler einen Pinsel beherrscht. Grass hat mich in „Der Butt“ dorthin geführt, wohin meine Mutter und Großmutter mit mir nicht mehr reisen konnten: In einen Teil meiner Geschichte, in die Heimat meiner Familie.

Es wird in den nächsten Tagen und Wochen viel gesagt werden über Grass. Sein Werk wird noch einmal gewürdigt werden, sein Nobelpreis und sicherlich wird auch seine SS-Mitgliedschaft noch einmal Thema sein. Aber wenn ich seinen Werdegang als einer seiner Leser betrachte, dann muss ich sagen, dass ich mir manchmal wünschte, im Ganzen genauso aufrecht wie er durchs Leben gehen zu können. Und als Schriftsteller wünschte ich mir, genauso gut und tief schreiben zu können, dass es auch einem Roman von mir gelänge, sich als Schullektüre ins Gedächtnis eines zornigen Sechzehnjährigen zu brennen und sich dort in Literatur zu verwandeln.

Ewald Arenz (49) ist Schriftsteller, Pädagoge und Fürths Kulturpreisträger 2007. Zuletzt erschien 2013 sein Roman „Ein Lied über der Stadt“. Für das Stadttheater schrieb er eine Neufassung von Lilian Hellmans „Die kleinen Füchse“, Premiere war im Januar.

 

Ich bin Jahrgang 1985, und für junge Menschen in meinem Alter war Grass eine schwierige Lektüre. In der Schule lasen wir „Im Krebsgang“, aber begeistert hat es mich nicht. Man kann auch nicht behaupten, dass das Interesse an Grass-Büchern in den vergangenen Jahren groß war. Grass war und ist Schullektüre, das merken wir natürlich. Aber Kunden, die seine Werke zum Vergnügen lesen, sind immer seltener geworden. Wer Interesse an den Klassikern hat, besitzt sie eh längst.

Dominik Fischer ist Geschäftsstellenleiter der Buchhandlung Hübscher in der Schwabacher Straße.

 

Nach dem Tod von Siegfried Lenz, Christa Wolf, Walter Jens, Marcel Reich-Ranicki und nun auch Günter Grass wird deutlich, dass wir uns gerade von einer prägenden literarischen Epoche verabschieden, die natürlich auch die großen politischen Umwälzungen des vergangenen Jahrhunderts gespiegelt hat. Von Grass wird neben seinen großen Romanen sicher auch sein besonderes Bemühen um eine Verständigung zwischen Deutschland und Polen bleiben.

Norbert Treuheit ist Gründer und Leiter des einzigen Publikumsverlags im Großraum, ars vivendi in Cadolzburg.

 

Was verbinde ich mit Grass: Ein deutscher Literaturnobelpreisträger ist gegangen – von denen es nicht viele gibt. Einer der ganz großen deutschen Schriftsteller, ein „Einmischer“ in das politische und gesellschaftliche Geschehen. „Die „Blechtrommel“ als Schullektüre hat sich mir unter die Haut gegraben und ist für mich heute noch spürbar.

Claudia Floritz, Leiterin des Kulturamtes der Stadt Fürth, organisiert unter anderem das Literaturfestival „Lesen!“, dessen vierte Auflage vom 25. Juni bis 5. Juli ansteht.

Mit Grass geht eine phänomenale Doppelbegabung als Schriftsteller und bildender Künstler. Vor allem sein zeichnerisches Werk halte ich für unterschätzt. Als Schriftsteller hatte er nicht den Anspruch, Gängiges zu schreiben, außerdem fand ich sympathisch, dass er damals mit offenem Visier Wahlkampf für Willy Brandt machte — er hat einfach nicht um den heißen Brei herum geredet, wie manche Kollegen das taten.

Ein Buchhändler muss zu Grass eigentlich nichts sagen. Der Kunde wünscht „Die Blechtrommel“ und fragt nicht weiter, wie er das sonst macht, sondern weiß Bescheid. Zu anderen Autoren müssen Sie oft erklärende Sätze abgeben, aber das war und ist bei Grass nie nötig. Und auch, wenn der Nobelpreis 1999 viel zu spät kam, weil er explizit für die schon 1959 erschienene „Blechtrommel“ vergeben wurde — er war doch auf jeden Fall berechtigt. Denn komme, was da wolle, „Die Blechtrommel“ ist wirklich unvergänglich und wird als Klassiker auch noch nachfolgende Generationen begeistern.

Dennoch: Bei Grass wusste man nie, was kommt. Das nächste Buch konnte immer entweder ein Riesenknaller sein oder ein Flop. Aber genau das hat mir immer gefallen. Denn nichts ist doch schlimmer, als ein Buch schon zu kennen, das man gar nicht gelesen hat.

Heinz Krekeler ist Geschäftsführer der Buchhandlung Edelmann an der Freiheit.

 

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