Die Ankunft der anderen

24.1.2012, 11:08 Uhr
Die Ankunft der anderen

© Hans Winckler

Die Tschechen hatten von nichts eine Ahnung, das sah man auf den ersten Blick. Wie sie da standen, in den städtischen Kleidern, als ob sie auf Sommerfrische wären, aber mit einem Schreiben ausgestattet, das sie als die neuen Eigentümer auswies. Gottfried wandte sich ab und rannte davon, er wollte nicht sehen, wie sie auf dem Hof Einzug hielten.

In den nächsten Tagen beobachtete er heimlich, wie der graugesichtige Mann und seine dürre Frau sich plagten. Die wussten nicht, wie man das Land bestellte, konnten keine Kuh melken, kein Pferd anschirren, aber das mit den Pferden war eh eine traurige Geschichte. Die guten Gäule hatten die Russen mitgenommen, und die Schindmähren, die sie stattdessen bekommen hatten, waren kaum ihr Futter wert.

Es dauerte nicht lange, bis der Tscheche um das Austraghaus schlich. Anklopfen wollte er scheinbar nicht, die Eltern sahen aber nicht hinaus und setzten auch keinen Fuß vor die Tür, obwohl sie hören konnten, wie das Vieh in den Ställen schrie.

Der Vater hatte kein Wort mehr gesprochen, seit die Soldaten gekommen waren, halbstarke Kerle, die sich nun als Sieger aufspielten, sie waren es ja auch. Der Anführer des Trupps, der nur wenige Jahre älter als Gottfried selbst zu sein schien, hatte den Eltern befohlen, ihre Sachen zu packen. Grob trieb er sie zur Eile an, die neuen Besitzer wären schon unterwegs.

„Und wo sollen wir hin?“, fragte die Mutter. Der Soldat wies auf das kleine Austraghaus, das seit dem Tod der Großmutter leer stand, normalerweise, bis die Eltern den Hof übergeben hätten und sich aufs Altenteil zurückzögen. Nun, das war auch eine Art Übergabe. Sie könnten Gott und der Regierung in Prag dafür danken, meinte der junge Soldat großspurig, dass sie im Land bleiben durften.

Von diesem Tag an saß der Vater im Austraghaus, den Blick ins Ungefähre gerichtet, und redete nicht mehr. Gottfried hielt das versteinerte Schweigen nicht lange aus, er machte sich aus dem Staub, ohne dass es die Eltern zu kümmern schien, trieb sich den ganzen Tag lang draußen herum, streunte über den Hof, durch Wald und Wiesen, bis ihn der Tscheche abpasste und um Hilfe bat.

Gottfried ließ sich nicht lange bitten. Er wies die Tschechen ein, zeigte ihnen alles, was er wusste, und half bei der Arbeit, es war ja keiner da, der es besser konnte. Sein Bruder war im Krieg geblieben, der Große, der einmal den Hof erben sollte, bisher hatten sie nicht in Erfahrung bringen können, ob er verwundet, gefallen oder in Gefangenschaft geraten war.

An seiner statt gab nun Gottfried mit seinen 14 Jahren den Ton an, freilich, ohne daran zu denken, dass ihnen der Hof nicht mehr gehörte, er sah ja an den Eltern, dass das zu nichts führte. Die hockten im Austraghaus, die Hände im Schoß, und sahen aneinander vorbei, während er sich nützlich, ja, unentbehrlich machte.

Der Tscheche war jedenfalls auf ihn angewiesen, er behandelte ihn mit Respekt, belohnte ihn sogar, mit Schnaps und Zigaretten. Gottfried ließ sich davon berauschen, paffte, trank, kam und ging, wie es ihm gefiel. Zum ersten Mal im Leben war er sein eigener Herr, ein großartiges Gefühl.

Er wusste gar nicht mehr, wie lange das so gegangen war, Wochen, Monate, einen ganzen, goldenen Sommer lang. Bis die Soldaten wiederkamen.

Ob das richtig gewesen war? War überhaupt irgendetwas richtig gewesen, damals?

Nicht für den Vater, der sein Leben lang nicht darüber hinwegkam, dass er vertrieben worden war. Dass er einen guten Platz im Leben gehabt hatte, und der neue war beschissen. Das war die Geschichte des Vaters. Gottfried dagegen machte sich nicht so viele Gedanken über seine Wurzeln, schließlich hatte er Füße, um zu gehen. Er machte sich auch nicht so viele Gedanken darüber, wie es gewesen wäre, wenn... So viel Wenn und Aber, das führte nirgendwo hin. Er hatte auch gar keine Zeit dazu, er brauchte seine Kraft, um sich einen Platz zu erarbeiten. Es gab ganz unterschiedliche Geschichten aus dieser Zeit, von Trauer und Schuld, Verlust und Neubeginn. Dieser merkwürdige, goldene Sommer zwischen Abschied und Aufbruch war Teil der seinen.



 

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