Die Mutter und das Mutterkorn

11.2.2014, 00:00 Uhr
Die Mutter und das Mutterkorn

© Winckler

An meinen Schutzengel:

„Seit langem bin ich tief in deiner Schuld. / Verzeih mir noch die eine – letzte Bitte: / Erstrecke deine himmlische Geduld / Auch auf mein Kind und lenke seine Schritte.
Er ist mein Sohn. Das heißt: Er ist gefährdet. / Sei um ihn tags, behüte seinen Schlaf: / Und füg es, dass mein liebes schwarzes Schaf / sich dann und wann ein wenig weiß gebärdet“. (Mascha Kaleko)

Sie geht durch den Saal, aufrecht und doch gekrümmt. Wie kann man denn leben mit einem Messer im Herzen. Sie drehen es um, das Messer. Es schmerzt. Kennen die denn kein Erbarmen, die Kameraleute. Sie zielen genau, das Blitzlicht, es tötet – nicht. So wie seine Schüsse auch mich nicht getötet haben – nur die Anderen. Und sie leidet darunter.

Warum musste mein Sohn ein schwarzes Schaf werden? Warum war er versteinert, herzlos, kalt? Zu mir war er warm, herzlich, schalkhaft. „Mutter, halt dich da raus. Das verstehst du nicht“, sagte er immer, wenn ich ihn fragte. „Wenn Du willst, dass der Kontakt nicht endgültig abreißt, halt Dich da raus!“ „Sagt Mutter, es war Uwe! wenn sie die Todesnachricht erreicht.“

Glaubte er, konnte er glauben, dass Deutschland in Not sei? Sprang er ins Boot, um andere zu retten? Schwarze Hilfe. „Deutschland, ein Schiff in der See, in Seenot.“ Schwarze Piraten sah er entern in seinem Wahn, braune, türkische, über die Reling sah er sie entern. In seinem Wahn. Und das Schiff sah er kippen, Schlagseite. War es so?

Und einen Mann hörte er rufen, zu seiner Entlastung, mit dröhnender, drohender Stimme, apokalyptisch laut: „Es schafft sich selber ab, die Steuermänner haben die Schleusen geöffnet, es wird untergehen, das Abendland, aus dem sie das Wort ,christlich' und ,jüdisch' gestrichen haben schon vor langer Zeit.“ Unsinn. Der Ruf des Sarrazin, hallt er nicht schrecklich weit bis in die Mitte der Gesellschaft?

Heimatlos wurden sie, die Kinder aus dem Osten, aber nicht nur sie, zum zweiten Mal. Wer gibt ihnen, wenn es dunkel wird, den Halt? Ratlose Eltern, Mütter zumal, im System waren sie einst geborgen, glaubten sie. Die Welt war nicht schön damals, aber zweckmäßig. Plattenbauten für alle, das Lohnniveau niedrig, aber es reichte, und die soziale Schere schnitt nur den Ungläubigen, den Andersgläubigen, den Aufsässigen den Kopf ab.

Die Mutter, Lehrerin für verhaltensauffällige Schüler, sie hatte dem einen Staat gedient, dessen Normen vertreten, der neue Staat, machte er sie ratlos? Das eigene Kind, verstört durch den Tod des Bruders, es konnte sie, die in Trauer erstarrte, zu lange erstarrte, nicht mehr erreichen. Vielleicht war da auch eine ganze Familie versteinert, gelähmt von einem Schock der Wende. Von den Gefangenen, die ins Tageslicht treten – wie viele genießen die Freuden der Freiheit, die Möglichkeiten? Andere aber, geblendet von maßloser Sonne, sehnen sich zurück mit schmerzenden Augen in das Reich der maßvoll geregelten Wünsche.

Woher kommt aber der Hass? Die Liste der Hassobjekte ist lang und unbegreiflich. Kurz das, was der unsägliche Diktator vor langen, langen Jahren in die Herzen und Hirne seines sich gedemütigt fühlenden Volkes eingepflanzt hat, genau das sprießt erneut, als wäre eine längst verheilte Wunde wieder hocheitrig und schwärend aufgeplatzt. Hoch giftig. Ein nationales Mutterkorn, das Veitstänze auslöst und aggressive Verzückungen. Labsal für die Schwachen, für orientierungslose Opfer der Globalisierung.

Geheimbünde sind da entstanden, Minizellen von Eingeweihten, die sich augenzwinkernd verständigen: „ Ja, wer hätte das von uns gedacht. Wir sind es, die Angst und Schrecken verbreiten, wir, die Todesgaudiburschen. Wir lesen im Untergrund begierig die Schlagzeilen und bedauern nur das Eine, dass noch niemand unsre Handschrift erkennt: Noch ist es gut so, märchenhaft mörderisch: Ach wie gut, dass niemand weiß, dass wir Rumpelstilzchen heißen.“

Klingt niedlich und bösartig, aber die aufgehetzten Buben hoffen auf eine große nationale Erweckung und dann vielleicht soll es geschehen: Auferstehung und Schuppen, die von allen Augen fallen: Ja, sie, die Radaubrüder, die Arbeitsscheuen und nicht Effektiven, ja sie waren die Schläfer, die Wegbereiter, die Einschüchterer gewesen, die ihre Spuren verwischen konnten. Und nun gibt es kein Korn mehr im Lande, nur Mutterkorn, das giftig ist bis auf die Knochen und bis in den Tod hinein euphorisiert.

„Right or wrong, my son!” Wie weit kann eine Mutter, wie weit können Eltern retten? Wie weit darf ich schützen? Wie lang darf ich nahe sein? Es sind doch nette Buben, freundliche Buben. Mögen sie grölen auf der Straße, daheim ziehen sie die Springerstiefel aus und baden in Mutters Teilnahme.

Und sie ist doch nur die Mutter des Einen, nur Sohnes – und nur Freundesmutter, für die Anderen, die Gejagten, die Verhassten, kann und darf sie nicht da sein, das verbietet die Loyalitätspflicht. Deutschland ist ihr Sohn jetzt – und wenn sein Denken Gewalt heißt, dann muss sie dies akzeptieren als Mutterpflicht. Schreckliche Logik. Mafia-erprobt überall.

Eine Freundin erzählt einen schrecklichen Traum. Ihr ältester Sohn war zu ihr gekommen, fassungslos, weinend, außer sich. Er hatte einen Mann erschlagen. „Beseitigen. Spuren verwischen, ungeschehen machen“ war ihre erste Reaktion als Mutter im Traum. Sie musste die Leiche zerstückeln, sie musste im Blut baden, Entsetzliches tun. Der Ekel würgte sie, aber sie tat es. Der Sohn war unfähig, ihr zu helfen. Die Leichenteile wurden ent-sorgt, die Mutter putzte und schrubbte die Wohnung rein und sorgen-frei. Beim Aufwachen dröhnte ihr Kopf, ein Menetekel der Erinnerung und das Wissen: „Ich würde so, vielleicht, im wahren Leben auch handeln. Und das Wissen erschreckte sie: Kann ich für meine Kinder wirklich zum reißenden Tier, zum Löwen, zur Löwin werden?“

„Er ist mein Sohn. Das heißt: Er ist gefährdet...“

Und wenn er pubertiert, rebelliert, provoziert und selbst jeden geduldigen Schutzengel entmachtet? Dann gilt: Abwarten und Beistehen und „Nein sagen“. Und versuchen, diese doch nur von Angst besetzten, bürgerlichen Ressentiments, die an so vielem Schuld sind, zu entkräften.
 

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