Die Stille der sibirischen Tundra

1.7.2011, 11:30 Uhr
Die Stille der sibirischen Tundra

© Scherer

Neulich war ich in der DESI beim Radio-Z-Fest. Am Abend wurden Kurzfilme gezeigt. Und mittendrin war die Vorstellung zu Ende. Das Macht- und Zauberwort lautete „Anwohnerbeschwerde“.

Der sogenannte Anwohner tritt heute mit Vorliebe als Beschwerdeführer in Erscheinung. Diese Spezies gab’s zwar früher auch schon, aber man konnte die wenigen Fälle, von denen man in der Zeitung las, noch unter „Kuriositätenkabinett“ verbuchen.

Meistens handelte es sich um Leute, die eine Wohnung gegenüber einer Kirche bezogen, nach dem Einzug zu ihrer großen Überraschung feststellten, daß in Kirchen regelmäßig Glocken geläutet werden, und daraufhin Klage wegen Ruhestörung erhoben. Die Zeiten haben sich geändert. Heute muß nicht mehr geklagt werden. Der Anwohner, der mit Vorliebe eine Wohnung in unmittelbarer Nähe einer Kneipe bezieht, kann per Anruf beim Ordnungsamt dafür sorgen, daß der Biergarten im Hof um 19 Uhr dichtgemacht wird.

Ebenso kann er dafür sorgen, daß im Nürnberger Rosenaupark ein Schild aufgestellt wird, das absolutes „Boulespielverbot“ verkündet und auch noch ernst gemeint ist. Die Kugeln klacken halt gar so laut aneinander – vermutlich übertrifft ihre Lautstärke den Verkehrslärm am Frankenschnellweg und den Nachtfluglärm am Flughafen. Denn gegen Letztere genügt kein Anruf beim Ordnungsamt, das ansonsten offenbar auf jeden Blödsinn reagiert. Da können sich Bürgerinitiativen in jahrelangen Kämpfen aufreiben – der Lärm bleibt. Oder geht es womöglich gar nicht um Dezibelgrenzen? Sondern vielmehr darum, daß andere Gesetze gelten, wenn nicht die Lebensfreude laut wird, sondern die Infrastruktur? Infrastruktur wird nämlich, im Gegensatz zu sommerlicher Lebensfreude, gebraucht, und wenn der Anwohner in die Nähe von Flughafen oder Stadtautobahn zieht, hat er eben Pech gehabt. Auch die einmal jährlich stattfindende ohrenbetäubende Materialschlacht, die unter dem Namen „Norisringrennen“ firmiert und ihre Dezibel durch die gesamte Nürnberger Südstadt jagt, kann nicht so ohne weiteres abgeschafft werden.

Wahrscheinlich deswegen, weil es um Autos geht. Autos haben immer irgendwas mit Infrastruktur zu tun, und Infrastruktur ist wichtig. Vorübergehende Ertaubung ist in Kauf zu nehmen. Das „Sommerkiosk“ in der Rosenau dagegen, das ebenfalls einmal jährlich stattfindet, steht kurz vor dem Aus.

Die Anwohner sollen schon fleißig Unterschriften gesammelt haben. Manche von ihnen, so wird kolportiert, können die Geräuschbelästigung freilich erst dann wahrnehmen, wenn sie ihre Hörgeräte einschalten. Am liebsten möchte man ihnen den Spruch aus den guten alten Ostblockzeiten zurufen: „Wenn’s euch hier nicht paßt, dann geht doch rüber!“ Das ginge heute eh viel leichter als früher. Die Grenzen zu den stillen Weiten der sibirischen Tundra sind offen.

Doch ich bin sicher, den hiesigen Durchschnittsanwohner zieht es nicht rüber, sondern runter. Dorthin, wo er mit Vorliebe seinen Urlaub verbringt, in den Süden, nach Spanien oder Italien, wo es so schön lebendig ist und wo auf der Plaza oder Piazza, hach! die ganze Nacht das temperamentvolle mediterrane Leben brodelt. Und selbstverständlich steigt er in einen der Flieger, die den Buchenbühlern die Nachtruhe rauben.

In der Fürther Gustavstraße könnte der Spruch „Geh doch rüber!“ noch funktionieren. Rüber heißt in dem Fall: in die nächste Station gen Osten, ins fade Nürnberg, wo man sich im MUZ-Club ab 22 Uhr der idyllischen Grabesstille hingeben kann.

Allein das Wort „Anwohner“ löst bei mir inzwischen einen Wutreflex aus. Man sollte jeden dieser Beschwerdeführer für ein Jahr in meine Wohnung verbannen, in die dreckigste und lauteste Straße der Südstadt, wo täglich zwischen 16 und 18 Uhr die schönsten Hup- und Straßenbahnklingelkonzerte stattfinden. Damit er merkt, wie still er es eigentlich hat.