Die Stimme seines Herrn

13.3.2012, 10:01 Uhr
Die Stimme seines Herrn

© Scherer

Ich kann nicht singen. Meine als Worte getarnten schiefen Töne sind grauenhaft. Ich habe nur einen Fan: meinen zweijährigen Sohn. Wann immer ich „Der Mond ist aufgegangen“ vor seiner Bettstatt krähe, sagt er „mal“. Was so viel heißt wie: „Papa, nochmal, nochmal!

Nur wenn du alle sieben Strophen dieses wundervollen Liedes von Matthias Claudius und Johann Abraham Peter Schulz intonierst, komme ich von den Aufregungen des Tages zur Ruhe.

Es spielt übrigens keine Rolle, dass du manche Verse und Reime komplett durcheinander haust. Denn deine Stimme macht alles wett. Du bist The Voice of Germany!“

Nach 14 Strophen höre ich es schnarchen. Ich bin heiser und verlasse meine Bühne in Richtung Wohnzimmer. So muss sich ein Rockstar nach einem Auftritt in der Carnegie Hall fühlen: erledigt, total neben sich, sehr glücklich. Ich hole mir ein Bier aus dem Kühlschrank und warte, bis meine Frau zurückkommt.

Was die wenigsten wissen: Meine Frau war es, die mir meine unglaubliche Solokarriere ermöglicht hat. Und das kam so: Da ich gerade an einem Reiseführer zu Hamburg bastele, habe ich mir erlaubt, an manchen Tagen nur eine Stunde mit meinem Sohn zu spielen.

Der junge Mann muss dieses egomanische, das Familienvermögen steigernde und ernährungstechnisch nicht ganz unwichtige Verhalten als unglaubliche Dreistigkeit gewertet haben. Sobald ich ihn ins Bett bringen wollte, sagte er „weg!“. Ich konnte es nicht fassen. Mein Sohn sagte „weg!“. Zu mir! Seinem Papa!! Wenn ich ihm die Zähne nachputzen wollte, schrie er. Nicht einmal ein Kinderbuch durfte ich vorlesen. Er zeigte unbeirrt auf die Frau, die ihn neun Monate in ihrem Bauch getragen hatte. Nur sie durfte das Abendritual zelebrieren.

An Tätigkeiten wie wickeln, Schlafanzug anziehen oder – Gott bewahre! – an seinem Bett zu wachen, bis der heilige Herr endlich in einen erlösenden Tiefschlaf tauchte, war nicht zu denken.

Nach einer Woche waren wir mit den Nerven runter. Er konnte nicht angehen, dass der kleine Mann uns vorschrieb, wie der Abend zu laufen hatte. – Also verabschiedete sich meine Frau während des Abendessens ins Exil: zu Freunden, die eine Straße weiter wohnten.

Emil verschlang eine Nudel und nahm den Abschied gelassen hin. Wir räumten die Teller in die Spülmaschine, spielten Fußball im Flur und begannen das Ritual. Da nur ich es war, der ihm heute die Zähne putzen, ihn wickeln, seinen Schlafanzug anziehen und etwas vorlesen konnte, arrangierte er sich zähneknirschend mit meiner Anwesenheit.

Erst als es ins Kinderzimmer zu seinem Bettchen ging, begannen die Schwierigkeiten. „Mama, Bett?“, sagte er fragend. Ich reagierte cool: „Die Mama hat sich von uns verabschiedet. Sie hat dich sehr lieb und wird morgen früh wieder hier sein. Deshalb lege ich dich jetzt...“ „Mama, Bett!“, sagte er insistierend. Ich antwortete schon vorsichtiger: „Wenn du jetzt gleich schläfst, wird es nicht lange dauern, bis dich die Mama wieder aus dem Bett herausholt. Am besten, ich lege dich sofort...“

„Mama, Bett!“, reagierte er ernsthaft panisch. Seine Stimme war bereits brüchig, meine Antworten erreichten auf der Armseligkeitsskala den letzten Platz. „Du bist sehr müde, der Tag ist müde, dein Bett ist müde, dein Kopfkissen ist müde, sogar dein Schnuffeltuch schläft schon. Meinst du nicht auch, dass du...“ „Mama, Bett!“

Ich hörte die Sekunden fallen. Sie sausten neben mir herunter und prallten hart auf den Dielen auf. Es gibt diesen einen Augenblick. Wenn der erreicht ist, geht nichts mehr. Dann konnte es einem das Herz zerreißen, wenn man sah, wie der kleine Mann litt und unbedingt seinen Willen erreichen wollte.

In meiner größten Verzweiflung konzentrierte ich mich auf das, was ich gar nicht kann. Ich begann zu singen. „Der Mond ist aufgegangen, die goldnen Sternlein prangen, am Himmel hell und klar.“ Emil hörte zu weinen auf, er horchte. „Der Wald steht schwarz und schweiget und aus den Wiesen steiget ein weißer Nebel wunderbar.“ „Mal! Mal!“ Ich sang erneut. Wieder wollte er eine Zugabe. An diesem Abend sang ich 27-mal die erste Strophe.

Wir arrangierten zwei weitere Exiltage. Es funktionierte. Am vierten Tag brachte ich Emil ins Bett, obwohl meine Frau zu Hause war. Statt „Mama, Bett!“ sagte er „Mond“. Ich wuchs einige Zentimeter, räusperte mich – und legte los.
 


 

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