Doppelbödige Idylle

5.10.2010, 09:30 Uhr
Doppelbödige Idylle

© Hans-Joachim Winckler

„Wenn ich die Augen schließe, regen sich die ersten, durchaus beglückenden Kindheitseindrücke: Der süßliche Geruch des blühenden Flieders der Schrebergärten erreicht mich dann, der säuerliche Mief der Bierwirtschaften, die faulige Würze der frisch gedüngten Wiesen. Bei unseren Ausflügen waren wir Kinder dazu angehalten, tief durchzuatmen; der Dunggeruch sei gesundheitsfördernd. Und vom Mief der Wirtschaften wusste mein Vater zu berichten, dass er vom alten Bier stammte, das die Wirte vor ihren Türen ausschütteten, um solcherart den Bierdurst der Kunden anzuregen.“

Zu den schönsten Passagen in Robert Schopflochers Buch „Weit von wo“ gehören die Erinnerungen an seine Kinderzeit in Fürth: Es sind sehr sinnliche Reminiszenzen, die viel mit Düften, Geräuschen, Geschmacksnoten und Farben zu tun haben, die sich dem kleinen Robert einprägten und die dem Erwachsenen auch auf seinem abenteuerlichen Weg durch die Welt nie abhandengekommen sind.

Robert Schopflocher, 1923 im Nathanstift geboren und in der Königswarterstraße 52 aufgewachsen, kann sie noch „abrufen“ in seinem Exil in Argentinien, wo er seit der Flucht mit den Eltern 1937 aus Deutschland bis heute lebt — und das ihm zu einer zweiten Heimat geworden ist.

Vergegenwärtigen muss er sich dazu parallel freilich auch die Kehrseite der Medaille: „Denn im Hintergrund lauert das Grauen“, heißt es nur ein paar Seiten weit entfernt von der „glücklichen Kindheit“, hinter die jedoch schon ein Fragezeichen gesetzt wurde.

Die jüdische Familie, die sich assimiliert einrichtet in großbürgerlicher Gediegenheit, die zu den angesehenen Herrschaften Fürths gehört und entlang der Promenade, auf der vor kurzem noch der alte Adler dampfte, regen und freundschaftlichen Umgang auch mit den christlichen Honoratioren pflegt, spürt am eigenen Leib die Verwandlung der Zeit und den Untergang der Moral.

Schopflocher schreibt in „Weit von wo“ von der „doppelbödigen Gemütlichkeit“ damals, in der die auch im ehedem so liberalen und toleranten Fürth „ständig wachsende antisemitische Stimmung“ zu Hause, wo der Weihnachtsbaum wie selbstverständlich neben dem Chanukkaleuchter stand, noch leichtfertig und ungläubig verdrängt wurde: „Denn die meine Kindheit beschützenden Erwachsenen empfanden die heranrollende Lawine der Gewalt als ein weit entferntes Naturereignis und verkannten, trotz der lärmenden Nürnberger Parteitage quasi vor der Haustür, die lebensbedrohliche Gefahr.“

Frühe Zäsur

Das Leben der Schopflochers erfährt eine Zäsur, schon früh: „Einmal — es muss zwei oder drei Jahre vor der Machtübernahme gewesen sein — fuhren meine in dieser Hinsicht naiven Eltern in der Straßenbahn, als vom Parteitag zurückkehrende Volksgenossen sie als Juden erkannten. Sie entgingen nur deswegen dem Lynchmord, weil der geistesgegenwärtige Schaffner den Wagen auf freier Strecke halten ließ, so dass sie sich in letzter Minute in Sicherheit bringen konnten.“

Jahre später wird es wieder „diese letzte Minute“ sein: Die Schopflochers schaffen die Flucht ins sichere Ausland, bevor die Deutschen beginnen, alles Jüdische aus ihren eng geschlossenen Reihen auszusondern. Schopflocher, den, wie er sagt, nur das Glück vor KZ und Vergasung bewahrt hat, dessen jüdische Schulkameraden aus Fürth zum größten Teil in den Vernichtungslagern ermordet wurden, denkt fragend an seine Heimatstadt zurück und versucht, Ordnung in seine Gefühle zu bringen.

Bei jeder sich ihm bietenden Gelegenheit wies sein Vater darauf hin, dass man den Zeichen der Verbundenheit der Juden mit der Stadt auf Schritt und Tritt begegnet: „Wir wohnten in der Königswarterstraße, ich erblickte das Licht der Welt im Nathanstift, es gab eine Krautheimer-Krippe und meine Mutter sang bei kulturellen Veranstaltungen im Berolzheimerianum. Kein Wunder, dass mein Vater stolz auf die Geschichte der jüdischen Gemeinde Fürth war (...) Und ich frage mich, ob dieses Zusammenspiel klassisch-deutscher und jüdischer Überlieferung vielleicht nicht nur in ihm, sondern auch in mir und in vielen deutschen Juden seiner und meiner Generation eine schöpferische Spannung erzeugte, ein ganz anderes Lebensgefühl, das selbst die Verbrechen der Nazis nicht ganz auslöschen konnten.“

Immer noch „verwundert“ stellt Schopflocher fest, „dass das Kindheitsland, aus dem ich verstoßen wurde, in den tiefen Schichten meines Seins weiterlebt und wirkt, trotz der unfassbaren Verbrechen, die in ihm stattgefunden haben“. Und so taucht er also noch einmal hinab in die Vergangenheit, die man ihm nicht zerstören und wegnehmen konnte, die er im fernen Buenos Aires immer noch riechen, schmecken, hören und vor seinem inneren Auge sehen kann:

„Und dann die Gaumenfreuden der Laugenbrezeln, der Milchweck’n und Mohnbrötle, der Dampfnudeln mit ,Hiftmark‘, des Bitzelwassers mit Zitronengeschmack, des Ochsenmaulsalats. Der ,Berches‘, dieses mit Mohn bestreute Zopfbrot, das sich die Juden am Freitagnachmittag vom Bäcker holen und das auch den christlichen Nachbarn mundet. Und die Laute: das Bimmeln der ,Elektrischen‘, die Kinderlieder, das im Chor rezitierte Einmaleins der Abc-Schützen (...). Die kindliche Aufregung, wenn sich, selten genug, ein Flieger am Himmel zeigt. Die Fürther ,Kärwa‘ mit ,Kaschperletheater‘, Brathering, Krachmandeln, Karussellgedudel, Türkischem Honig und dem Gewitzel des ,billigen Jakobs‘.“