Eine Narbe erinnert an Anne Frank

23.7.2016, 10:00 Uhr
Eine Narbe erinnert an Anne Frank

© Foto: Zeitsprung Pictures

Pieter Kohnstam zeigt auf die Narbe an seinem Kinn. „Das ist meine Erinnerung an Anne Frank.“ Als kleiner Junge fuhr er mit seiner „Babysitterin“, wie der heute 80-Jährige Anne Frank nennt, auf einem Tretroller. Das Straßenpflaster am Merwedeplein in Amsterdam war uneben, beide stürzten.

Pieter Kohnstam ist mit seiner Frau, Tochter und Enkelkindern noch einmal nach Europa gekommen, um das Buch „Mut zum Leben“ vorzustellen. Das Werk, auf Englisch ist es bereits 2008 erschienen, basiert auf einem Manuskript von Kohnstams Vater Hans sowie Erinnerungen von Mutter Ruth und Pieter selbst. Im Helene-Lange-Gymnasium, nur wenige Gehminuten vom ehemaligen Firmensitz der Großeltern entfernt, erzählte Kohnstam, teilweise stockend und den Tränen nahe, seine Geschichte.

Eine Narbe erinnert an Anne Frank

© Foto: Horst Linke

Sein Vater Hans entstammte einer wohlhabenden jüdischen Handelsfamilie. 1865 gegründet, zählte das Spielwarenexporthaus bis zur erzwungenen Liquidation 1934 zu den bedeutendsten Handelsfirmen der deutschen Spielwarenbranche. Hans Kohnstams Leidenschaft galt jedoch der Kunst. Sie führte aber auch dazu, dass er mit seiner Frau im September 1933 aus Deutschland fliehen musste. Das Paar lebte damals in einer Erdgeschosswohnung, im Sommer standen die Fenster offen. Jeder konnte ins Wohnzimmer schauen, wo die Gemälde hingen, darunter eine Darstellung des Heiligen Sebastian mit androgynen Zügen. Für die Nationalsozialisten war das „entartete Kunst“.

Kohnstam bekam einen Hinweis, dass man gegen ihn ermittelte, und rettete sich mit Frau und Kind nach Amsterdam, wo die väterliche Firma eine Dependance hatte. 1936 wurde Pieter geboren. Die Familie lebte in einem Mehrfamilienhaus am Merwedeplein 17, einige Meter weiter wohnte die Familie Frank. Es entstand eine Freundschaft.

Bei seiner Mutter, erzählt Pieter Kohnstam, habe sich Edith Frank einmal darüber beklagt, dass ihre Tochter Anne immer ihre Aufzeichnungen in der Wohnung herumliegen lasse. Auf Anraten von Ruth Kohnstam soll Edith Frank der Tochter ein Tagebuch gekauft haben, das später in die Geschichte einging.

Im Gegensatz zu den Franks entschieden sich die Kohnstams 1942, aus Amsterdam zu fliehen. „Es gab einen sehr emotionalen Abschied. Ich hatte das Bauchgefühl, dass das ein Ende war“, sagt Kohnstam. Es begann eine zwölfmonatige Flucht. „Wir verkleideten uns als Bauern. Wir hatten nichts dabei. Wir lebten von dem, was wir auf den Feldern fanden.“ Die Familie musste sich auf Schleuser verlassen, die nicht selten Juden an die Gestapo verrieten. Eine Nacht verbrachte der damals Sechsjährige in einer Hütte, die von den Deutschen als Folterkammer genutzt worden war.

Am Fluss Cher in Frankreich musste Pieter mitansehen, wie ein Schleuserboot, auf dem ein älteres Ehepaar saß, kenterte. „Sie gaben keinen Laut von sich, als sie ertranken. Man hatte ihnen gesagt, sie dürfen kein Geräusch machen.“ Mithilfe des Untergrunds gelang der Grenzübertritt nach Spanien. In Barcelona taufte der Bischof die Familie, ohne dass sie ihren jüdischen Glauben widerrufen musste. Die Kohnstams konnten so nach Buenos Aires ausreisen.

Pieter Kohnstam arbeitete später als Banker unter anderem in Zürich, ehe er 1963 in die USA auswanderte, wo er heute in Florida lebt. Er hält regelmäßig Vorträge vor Schulklassen. Zu den Schülern in Fürth sagte er angesichts weltweiten Terrors: „Steht auf und schaut nicht weg. Kämpft gegen Völkermord und Diskriminierung. Ihr habt die Freiheit, doch man muss sie sich erarbeiten.“

„Mut zum Leben – Eine Familie auf der Flucht in die Freiheit“, Ergon-Verlag, 2016. ISBN 978-3- 95650-159-3

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