Ex-Kleeblatt-Keeper hilft heute Suchtkranken

10.8.2018, 16:14 Uhr
Ex-Kleeblatt-Keeper hilft heute Suchtkranken

Jeden Montag, um kurz vor 18 Uhr, steht Günther Reichold von seinem Bürostuhl auf, schaltet den PC ab und greift zum Autoschlüssel. Er schiebt die Holztür seines Büros im ersten Stock hinter sich zu und trabt die kurze Treppe herunter, vorbei an gebrauchten Büchern, an gebrauchtem Geschirr, an gebrauchten Klamotten. Unten angekommen trifft er noch auf zwei Mitarbeiter.

Ein Scherz. Ein Lachen. "Schönen Feierabend", ruft Reichold ihnen zu, als er sich bereits in Richtung Ausgang gedreht hat, wohl wissend, dass sein Abend noch lange nicht zu Ende ist. Als er kurz darauf im Auto sitzt, ertönt aus dem Radio die Stimme von Angela Merkel. "Wer Menschen in Not hilft, verdient unsere Wertschätzung", schallt es aus den Lautsprechern am beleuchteten Display.

Die Bundeskanzlerin spricht in diesem Moment über die Pfleger eines Altenheims. Sie könnte aber genauso gut über Günther Reichold sprechen. In Fürth ist sein Name bekannt. In den 90er-Jahren wird er Profispieler. Als Torwart, erst beim TSV Vestenbergsgreuth, später bei der SpVgg Greuther Fürth, 157 Fußballspiele in der 2. Bundesliga, über 14 000 Spielminuten.

Dort, wo er im Jahr 2004 seine erste Karriere beendet, beginnt auch seine zweite: Aus dem Torwart wird ein Torwarttrainer. Zehn Jahre lang. Dann endet auch diese Ära.

Für Profispieler gibt es außerhalb des Fußballgeschäfts keinen vorgegebenen Berufsweg, keinen roten Lebensfaden, an dem sie sich nur entlanghangeln müssten. Vieles ergibt sich willkürlich.

Und auch Reichold hält die Entstehung seiner dritten Karriere für reinen Zufall. Er knüpft damals Kontakte, macht eine IHK-Prüfung zum betrieblichen Suchtberater und landet schließlich im Therapiezentrum der Laufer Mühle, wo er sich Tag für Tag hocharbeitet, bis in den ersten Stock des Kreislauf-Kaufhauses in Höchstadt. Was er da noch nicht weiß: Schon bald wird ihn der Fußball ein drittes Mal einholen.

"Ein klares Ziel"

Die Autofahrt ist vorbei. Etwa 15 Minuten braucht er normalerweise, um von Höchstadt nach Adelsdorf zu kommen. Diesmal etwas länger, er musste einen Umweg nehmen. Auf dem Gelände der Laufer Mühle sind an jeder Ecke Bewohner anzutreffen. Reichold kennt sie fast alle, grüßt sie, spricht mit ihnen. Schließlich bleibt er im Garten der Anlage stehen und blickt in blumiges Grün und sonniges Gelb. "Wir haben ein klares Ziel", sagt Reichold.

"Jeder Einzelne hier soll sein Leben am Ende wieder selbst meistern können." Die Laufer Mühle wirkt beinahe wie ein magischer Ort. Je weiter man in das Therapiezentrum hineinläuft, desto größer scheint es zu werden, wie ein Universum, das sich immer weiter ausdehnt. Seit 25 Jahren kommen Menschen, die dem Alkohol oder den Drogen verfallen sind, in dieses Universum, um einen Schlussstrich zu ziehen und darunter zu schreiben: Nie wieder!

Ex-Kleeblatt-Keeper hilft heute Suchtkranken

© Fotos: Hans Winckler, Wolfgang Zink

Viele der Bewohner landen zu Beginn ihrer Therapie auf der geschlossenen Station, wo die Reise in ein besseres Leben beginnen soll. Mit jedem Erfolg, mit jedem Tag ohne Rückfall, bekommen die Patienten neue Freiheiten. Sie müssen sich hocharbeiten, wie einst Günther Reichold.

Und einige von ihnen landen irgendwann bei ihm im Kaufhaus, einem der vielen Arbeitsstandorte außerhalb des Zentrums. Denn die Arbeit ist der Schlüssel zum Erfolg. Permanente Beschäftigung, klare Tagesstrukturen, bloß kein Leerlauf. Die Suchtgedanken sollen bereits zerplatzen, bevor sie überhaupt entstehen können. "Man muss den Menschen das Gefühl geben, gebraucht zu werden", sagt Reichold.

Dabei helfen auch Freizeitangebote. Sportangebote. Zum Beispiel Fußball. Er hat das Fahrzeug gewechselt. Statt im Auto sitzt Reichold jetzt in einem Bus und wartet vor dem Therapiezentrum auf seine Fußballer. Wer hätte gedacht, dass er noch einmal Trainer wird? Jeden Montagabend nehmen Reichold und der Laufer- Mühle-Chef Michael Thiem die Suchtkranken mit, kicken mit ihnen und fahren sie wieder heim.

Nach und nach steigen seine Spieler jetzt ein und es wird schnell klar, wie bunt gemischt, wie heterogen dieses Team ist. Bayern-Trikot, Nürnberg-Trikot, Deutschland-Trikot. Nike, Adidas, Puma. Groß, klein, alt, jung, Mann und Frau. Manche stehen noch am Beginn ihrer Therapie, manche sind mittendrin, andere haben sie schon überstanden, aber wollen trotzdem weiter mitspielen.

Zwölf Menschen, zwölf Leidensgeschichten, die vielleicht schon bald eine positive Wende nehmen könnten. "Etwas warm für eine lange Hose, oder?", fragt Reichold, während er den Bus manövriert. "Ich bin doch bloß der Torwart", kontert ein Spieler. Reichold lächelt. Vielleicht ist das die eigentliche Herausforderung, eine, die er in seiner Zeit bei den Profis nicht kannte: so viele unterschiedliche Charaktere, die sich in Alter und Niveau unterscheiden, zu einem Team zu formen, das immer wieder Spieler verliert.

90 Minuten austoben

Oft, weil es Erfolgsmeldungen gibt. Manchmal, weil die Sucht zurückschlägt. "Diesmal bastele ich mir ein Team, das gewinnt!", ruft Reichold und wirft jedem zweiten Spieler ein gelbes Leibchen zu. Auf dem Rasenplatz werden sie sich austoben. 90 Minuten lang, ohne Pause. Kein Aufwärmen, keine Konditionseinheiten, keine Spielformen. Nur Fußball. "Sie sollen vor dem Schlafen so richtig müde werden, damit sie auf keine anderen Gedanken kommen." Und tatsächlich: Sie laufen, passen und schießen, gegen die Sucht, gegen den Rückfall, für ein besseres Leben. Und der Mann, der einst in der zweiten Liga spielte, steht mittendrin, kickt mit, motiviert sie. Ist das der Reiz dieser Arbeit? Wer eine Antwort will, muss diese Geschichte zurückspulen, noch vor ihren eigentlichen Anfang.

Noch bevor er auf dem Adelsdorfer Platz kickt, noch bevor er die Suchtkranken im Bus mitnimmt, noch bevor er kurz vor 18 Uhr nach seinem Autoschlüssel greift, da sitzt Reichold in seinem Büro im ersten Stock des Kreislauf- Kaufhauses und sagt: "Man erfährt eine ganz neue Form der Dankbarkeit".

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